Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
Vom Netzwerk:
Buschwanderung der australischen Aborigines, in Zusammenhang zu bringen. Und ich weiß auch nicht mehr, wo ich den Ausdruck »Walkabout« zum erstenmal hörte. Doch irgendwie gewann ich die Vorstellung von den »zahmen« Australnegern, die an einem Tag zufrieden auf einer Rinderfarm arbeiteten und am nächsten Tag, ohne Ankündigung und ohne ersichtlichen Grund , ihre Stöcke aufpflanzten und das Weite suchten.
    Sie zogen ihre Arbeitskleidung aus und gingen davon: für Wochen und Monate und sogar Jahre, und sie wanderten über den halben Kontinent, und sei es nur, um einen Menschen zu treffen, ehe sie zurückwanderten, als wäre nichts geschehen.
    Ich versuchte mir das Gesicht ihres Arbeitgebers vorzustellen, wenn er entdeckte, daß sie gegangen waren.
    Vielleicht war es ein Schotte: ein großer kräftiger Mann mit fleckigem Gesicht und einem Mund voller Obszönitäten. Ich malte mir aus, daß er zum Frühstück Steak und Eier aß – in den Tagen der Lebensmittelrationierung war uns bekannt, daß alle Australier ein Pfund Fleisch zum Frühstück aßen. Danach trat er in das blendende Sonnenlicht hinaus – in Australien war das Sonnenlicht immer blendend – und rief seine »Boys«.
    Nichts.
    Er rief wieder. Kein Laut, bis auf das höhnische Gelächter des Lachenden Hans. Er ließ den Blick über den Horizont schweifen. Nichts als Gummibäume. Er schritt über die Viehweiden. Auch dort nichts. Dann, draußen vor ihren Hütten, fand er die Stöcke mit ihren Hemden und Hüten und ihren aus den Hosen herausragenden Stiefeln …

3
    A rkady bestellte zwei Cappuccinos im Coffee-Shop. Wir trugen sie zu einem Tisch am Fenster, und er begann zu erzählen.
    Sein schnelles Denken machte mich ganz benommen, wenn ich auch manchmal den Eindruck hatte, daß er redete, als stünde er auf einem Podium, und daß vieles von dem, was er sagte, schon einmal gesagt worden war.
    Die Aborigines hatten eine erdgebundene Philosophie. Die Erde schenkte einem Menschen das Leben, gab ihm seine Nahrung, seine Sprache und Intelligenz; und die Erde nahm ihn zurück, wenn er starb. Eines Menschen »eigenes Land«, und war es auch nur ein öder Landstrich mit Spinifexgestrüpp, war eine heilige Ikone, die unversehrt bleiben mußte.
    »Unversehrt, meinen Sie, von Straßen und Bergwerken und Eisenbahnen?«
    »Wenn man die Erde verwundet, verwundet man sich selbst«, sagte er ernst, »und wenn andere die Erde verwunden, verwunden sie dich. Das Land sollte unberührt bleiben: so wie in der Traumzeit, als die Ahnen die Welt ins Dasein sangen.«
    »Rilke«, sagte ich, »hatte eine ähnliche Vorstellung. Auch er sagte: Gesang ist Dasein.«
    »Ich weiß«, sagte Arkady und stützte sein Kinn in beide Hände. »Drittes Sonett an Orpheus.«
    Die Aborigines, fuhr er fort, waren ein Volk, das auf leichten Füßen über die Erde schritt; und je weniger sie der Erde wegnahmen, um so weniger mußten sie ihr zurückgeben. Sie hatten nie verstanden, warum die Missionare ihnen ihre unschuldigen Opferriten verboten. Sie schlachte ten nicht, weder Tiere noch Menschen. Wenn sie jedoch der Erde für ihre Geschenke danken wollten, schlitzten sie sich einfach eine Ader am Unterarm auf und ließen ihr eigenes Blut auf den Boden tropfen.
    »Kein sehr hoher Preis«, sagte er. »Die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts sind der Preis dafür, daß zu viel genommen wurde.«
    »Ich verstehe«, sagte ich und nickte ratlos. »Aber könnten wir zu den Songlines zurückkehren?«
    »Können wir.«
    Ich war nach Australien gekommen, um nach Möglichkeit selber in Erfahrung zu bringen und nicht aus Büchern anderer zu lernen, was eine Songline war – und wie sie funktionierte. Es war offensichtlich, daß ich nicht bis zum Kern der Sache vorstoßen würde, aber das wollte ich auch gar nicht. Ich hatte eine Freundin in Adelaide gefragt, ob sie einen Experten kenne. Sie gab mir Arkadys Telefonnummer.
    »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Notizbuch benutze?« fragte ich.
    »Nur zu!«
    Ich zog ein Notizbuch mit einem schwarzen Wachstucheinband aus meiner Tasche; die Seiten wurden von einem Gummiband zusammengehalten.
    »Ein hübsches Notizbuch«, sagte er.
    »Ich habe sie immer in Paris gekauft«, sagte ich. »Aber jetzt werden sie nicht mehr hergestellt.«
    »Paris?« wiederholte er und runzelte die Brauen, als sei ihm so etwas Anmaßendes noch nie zu Ohren gekommen.
    Dann zwinkerte er mir zu und sprach weiter.
    Um die Vorstellung der Traumzeit zu verstehen, sagte er, müsse man sie

Weitere Kostenlose Bücher