Traumsammler: Roman (German Edition)
danach zu fragen. Es war ihre Idee, alles aufzuschreiben.
Du kannst mich jederzeit fragen , sagte ich.
Ich will dich aber nicht stören , sagte sie. Und ich möchte ihn besser kennenlernen.
Ich verschweige ihr, dass sie ihn nie kennenlernen wird wie von ihr erhofft. Aber ich weihe sie in einige Tricks ein. Zum Beispiel, dass ich Baba, wenn er sich aufregt, in den meisten Fällen beruhigen kann, indem ich ihm rasch einen Versandhauskatalog oder einen Möbelprospekt gebe – wieso das funktioniert, ist mir zwar ein Rätsel, aber ich sorge dafür, dass beides immer reichlich vorhanden ist.
Wenn du willst, dass er einschläft, musst du den Sender mit Wetterberichten einstellen. Golf funktioniert auch. Aber ja keine Kochshows.
Wieso nicht?
Weil er sich dann aufregt. Warum auch immer.
Nach dem Mittagessen machen wir einen Spaziergang. Nur einen kurzen, weil Baba rasch ermüdet, aber auch wegen Paris Arthritis. Wenn Baba zwischen Pari und mir über den Bürgersteig geht, mit Schiebermütze, Strickjacke und gefütterten Mokassins, schaut er immer etwas furchtsam drein. Gleich um die Ecke befindet sich eine Mittelschule mit einem verwahrlosten Fußballfeld, dahinter ein kleiner Spielplatz, den ich mit Baba oft ansteuere. Dort finden wir meist ein oder zwei junge Mütter mit Buggy vor, ein über den Sandkasten stolperndes Kleinkind und gelegentlich ein Schule schwänzendes, rauchendes Teenagerpaar, das auf der Schaukel langsam hin und her schwingt. Diese Teenager würdigen Baba keines Blickes, und wenn sie doch einmal hinschauen, dann so kalt und gleichgültig oder so verächtlich, als hätte Baba irgendwie verhindern müssen, dass Alter und Verfall ihn heimsuchen.
Eines Tages, ich unterbreche meine Arbeit, um mir frischen Kaffee aus der Küche zu holen, beobachte ich Baba und Pari, wie sie zusammen einen Film gucken. Baba sitzt im Sessel, die Mokassins ragen unter der Decke hervor, er hat den Kopf leicht gesenkt, sein Mund steht offen, und er runzelt konzentriert oder verwirrt die Stirn. Pari sitzt neben ihm, die Hände im Schoß gefaltet, die Füße übereinandergeschlagen.
»Wer ist die da?«, fragt Baba.
»Das ist Latika.«
»Wer?«
»Latika, das kleine Mädchen aus den Slums. Die nicht auf den Zug springen konnte.«
»Sie sieht aber nicht klein aus.«
»Das ist jetzt viele Jahre später«, sagt Pari. »Sie ist jetzt älter, verstehst du?«
In der Woche zuvor, wir saßen zu dritt am Spielplatz auf einer Bank, hat Pari gefragt: Weißt du noch, dass du als Junge eine kleine Schwester hattest, Abdullah?
Sie hatte die Frage kaum ausgesprochen, da begann Baba zu weinen. Pari zog seinen Kopf an ihre Brust, sagte immer wieder mit panischem Unterton Verzeih mir, verzeih mir , und wischte ihm über die Wangen, aber Baba wurde von so heftigen Schluchzern geschüttelt, dass er kaum noch Luft bekam.
»Und weißt du, wer das ist, Abdullah?«
Baba brummt.
»Das ist Jamal. Der Junge aus der Gameshow.«
»Ist er nicht«, stößt Baba hervor.
»Nein? Meinst du?«
»Er serviert Tee!«
»Ja, aber das ist eine Szene aus der Vergangenheit. Von früher. Das ist eine … wie nennt man das?«
Rückblende , flüstere ich in meine Kaffeetasse.
»Die Gameshow ist die Gegenwart, Abdullah. Den Tee hat er in der Vergangenheit serviert.«
Baba blinzelt verständnislos. Im Film sitzen Jamal und Salim auf dem Dach eines Hochhauses in Mumbai und lassen die Füße baumeln.
Pari sieht ihn an, als würde sie darauf warten, dass sich in seinem Blick etwas auftut. »Eine Frage, Abdullah«, sagt sie. »Nehmen wir an, du würdest eine Million Dollar gewinnen – was würdest du damit anfangen?«
Baba zieht eine Grimasse, verlagert sein Gewicht und streckt sich auf dem Sessel aus.
»Ich wüsste, was ich tun würde«, sagt Pari.
Baba starrt sie mit leerem Blick an.
»Wenn ich eine Million Dollar gewinne, kaufe ich ein Haus in dieser Straße. Dann wären wir Nachbarn, du und ich, und ich würde jeden Tag vorbeikommen, um mit dir gemeinsam fernzusehen.«
Baba grinst.
Wenige Minuten später, ich sitze wieder mit Kopfhörern in meinem Zimmer und tippe weiter, höre ich ein lautes Klirren und Gebrüll auf Farsi. Ich reiße die Kopfhörer herunter und renne in die Küche. Pari steht mit dem Rücken zur Mikrowelle, die Hände vor das Kinn gepresst, und Baba stößt ihr mit weit aufgerissenen Augen seinen Stock gegen die Schulter. Scherben liegen auf dem Boden.
»Raus mit ihr!«, schreit Baba bei meinem Anblick. »Diese Frau soll aus
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