Traumsammler: Roman (German Edition)
verlassen zu werden. Ohne dich würde er sich verirren und nie mehr zurückfinden, Pari.
Ich zwang mich, die Sonnenstrahlen zu betrachten, die durch die federigen Blätter auf die raue Baumrinde fielen. Ich biss mir so heftig auf die Zunge, dass ich Blut im Mund schmeckte und Tränen in meine Augen traten.
Ein Bruder , sagte ich.
Ja.
Ich habe jede Menge Fragen.
Frag mich heute Abend. Dann bin ich nicht so müde. Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß.
Ich nickte. Trank den kalten Rest meines Tees. An einem Nachbartisch tauschte ein Paar mittleren Alters die Seiten einer Zeitung aus. Die Frau, rothaarig und mit offenem Gesicht, beobachtete uns über den Rand der großformatigen Zeitung hinweg, ihr Blick wanderte von mir zu meiner Mutter mit ihrem grauen Gesicht, der Beanie-Mütze, den von Abschürfungen übersäten Händen, den eingesunkenen Augen und dem skelettartigen Lächeln. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte die Frau kurz und fast unmerklich, als würden wir ein geheimes Wissen teilen, und ich ahnte, dass sie das Gleiche durchgemacht hatte wie ich.
Und, Mutter, was meinst du? Schaffst du es zum Markt?
Meine Mutter sah mich unverhohlen an. Ihre Augen wirkten zu groß für den Kopf, der Kopf zu groß für die Schultern.
Ich könnte eine neue Mütze gebrauchen , sagte sie.
Ich warf die Serviette auf den Tisch, stand auf und ging zu meiner Mutter. Ich löste die Bremse des Rollstuhls und zog ihn vom Tisch weg.
Pari , sagte sie.
Ja?
Sie legte den Kopf weit in den Nacken, um mich anschauen zu können. Das durch das Laub der Bäume fallende Licht tanzte über ihr Gesicht. Ist dir bewusst, wie viel Kraft dir Gott geschenkt hat? , fragte sie. Wie stark und gut er dich erschaffen hat?
Die Wege des Geistes sind unergründlich. Zum Beispiel dieser Moment. Von den Tausenden und Abertausenden von Momenten, die ich während all der Jahre mit meiner Mutter verbracht habe, strahlt dieser am hellsten, hallt am lautesten in meinem Hinterkopf nach: Meine Mutter, die mich mit in den Nacken gelegtem Kopf betrachtet, ihr Gesicht verkehrt herum, die tanzenden Lichtflecken auf ihrer Haut, meine Mutter, die mich fragt, ob ich wisse, wie stark und gut mich Gott erschaffen habe.
* * *
Nachdem Baba im Sessel eingeschlafen ist, schließt Pari behutsam seine Strickjacke und zieht sich die Decke über den Oberkörper. Sie schiebt eine abstehende Haarsträhne hinter sein Ohr und schaut ihm eine Weile beim Schlafen zu. Ich tue das auch gern, weil er dann fast normal wirkt. Sein leerer, trüber, verständnisloser Blick ist hinter den Lidern versteckt, und er kommt mir vertrauter vor. Im Schlaf scheint etwas von seinem alten Selbst zurückzukehren, er wirkt wacher und aufmerksamer. Ich frage mich, ob Pari beim Anblick seines auf dem Kissen liegenden Kopfes eine Vorstellung davon bekommt, wie er einmal war, wie er früher gelacht hat.
Wir gehen in die Küche. Ich hole einen Topf aus dem Schrank und fülle ihn mit Wasser.
»Ich würde dir gern etwas zeigen«, sagt Pari, und sie klingt plötzlich aufgeregt. Sie sitzt am Tisch und blättert hastig in einem Fotoalbum, das sie vorhin aus ihrem Koffer geholt hat.
»Ich fürchte, der Kaffee ist nicht so gut wie der in Paris«, sage ich über die Schulter, als ich das Wasser in die Kaffeemaschine kippe.
»Ich bin da nicht sehr anspruchsvoll, glaub mir.« Sie hat den gelben Schal abgenommen und eine Lesebrille aufgesetzt, um die Fotos betrachten zu können.
Als die Kaffeemaschine zu blubbern beginnt, setze ich mich neben Pari. » Ah, oui. Voilà . Da ist es«, sagt sie, dreht das Album um und schiebt es mir hin. Sie tippt auf ein Foto. »Das ist der Ort. Wo dein Vater und ich geboren wurden. Und auch unser Bruder Iqbal.«
Bei ihrem ersten Anruf aus Paris hatte sie Iqbal erwähnt, als sei der Name ein Beweis dafür, dass sie nicht log, dass sie tatsächlich diejenige war, als die sie sich vorstellte. Ich sagte nichts weiter dazu, denn ich wusste auch so, dass sie die Wahrheit sagte. Das wusste ich schon in dem Moment, als ich ans Telefon ging, als sie den Namen meines Vaters nannte und fragte, ob sie bei uns richtig sei. Ich sagte: Ja. Wer spricht da? Und sie antwortete: Ich bin seine Schwester . Mein Herz begann zu rasen. Ich tastete nach einem Stuhl, um mich zu setzen, ringsumher trat Totenstille ein. Das war ein Schock, ja, eine Art dritter Akt wie im Theater, etwas, das im wahren Leben fast nie passiert. Aber auf einer anderen Ebene – einer empfindlicheren Ebene,
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