Traumsammler: Roman (German Edition)
die sich gegen jede Rationalisierung sperrt, eine, die wie Glas zersprungen wäre, wenn ich sie auch nur benannt hätte – überraschte mich ihr Anruf nicht. Als hätte ich mein ganzes Leben lang damit gerechnet, dass wir einander finden würden, durch einen verwirrenden Winkelzug des Schicksals, des Zufalls, der Umstände oder wie auch immer man es nennen mag.
Ich ging mit dem Telefon hinten in den Garten und setzte mich neben dem Gemüsebeet, das meine Mutter noch mit Paprikaschoten und Riesenkürbissen bepflanzt hatte, auf einen Stuhl. Die Sonne schien warm auf meinen Nacken, und ich zündete mir mit zitternden Händen eine Zigarette an.
Ich weiß, wer Sie sind , sagte ich. Ich habe Sie mein ganzes Leben gekannt.
Am anderen Ende der Leitung trat Stille ein, aber ich hatte den Eindruck, dass sie lautlos weinte und aus diesem Grund den Hörer von sich fort hielt.
Wir sprachen fast eine Stunde. Ich erzählte ihr alles, was ich über ihr Schicksal wusste, sagte ihr, dass ich meinen Vater jedes Mal vor dem Einschlafen gebeten hatte, noch einmal ihre Geschichte zu erzählen. Pari sagte, dass sie selbst nichts davon gewusst und wahrscheinlich bis zu ihrem Tod nichts davon erfahren hätte, wenn ihr in Kabul lebender Stiefonkel, Nabi, nicht vor seinem Tod einen Brief an sie geschrieben hätte, in dem er unter anderem schilderte, was ihr während der Kindheit widerfahren war. Nabi habe diesen Brief einem in Kabul tätigen Chirurgen namens Markos Varvaris übergeben, der sie schließlich in Frankreich aufgespürt hatte. Pari war dann im Sommer nach Kabul gereist und hatte Markos Varvaris besucht, der eine Fahrt nach Shadbagh für sie organisierte.
Gegen Ende unseres Gesprächs konnte ich spüren, wie sie all ihren Mut zusammennahm und sagte: So, das ist wohl alles. Darf ich jetzt mit ihm sprechen?
Da musste ich es ihr sagen.
Ich ziehe das Album näher zu mir heran und betrachte das Foto, auf das Pari deutet. Ich sehe eine große, von einer hohen, weißen, oben mit Stacheldraht gesicherten Mauer umgebene Villa oder besser: Die scheußlich misslungene, unglaublich geschmacklose Version einer Villa, dreistöckig, in Rosa, Grün und Gelb gestrichen, mit Erkern und Zinnen, spitzen Giebeln, Mosaiken und spiegelverglasten Fenstern. Ein Monument des Kitsches.
»Mein Gott«, hauche ich.
» C’est affreux, non? «, sagt Pari. »Grauenhaft. Die Afghanen bezeichnen solche Häuser als Drogenpaläste. Diese Villa gehört einem bekannten Kriegsverbrecher.«
»Und mehr ist von Shadbagh nicht übrig?«
»Jedenfalls nicht vom alten Dorf. Es gibt nur noch dieses Haus und viele Hektar mit Obstbäumen. Des vergers ? Wie heißt das?«
»Obstwiesen.«
»Ja.« Sie streicht über das Foto der Villa. »Ich würde gern wissen, wo unser altes Haus stand – von diesem Drogenpalast aus gesehen, meine ich. Ich wäre so froh, wenn ich die genaue Stelle kennen würde.«
Sie erzählt mir vom neuen Shadbagh – eine richtige Stadt mit Schulen, Krankenhaus und Einkaufsstraße, sogar mit einem kleinen Hotel –, das ungefähr drei Kilometer vom Standort des ursprünglichen Dorfes entfernt errichtet wurde. In dieser Stadt hat sie mit dem Dolmetscher nach ihrem Stiefbruder gesucht. Das habe ich schon während unseres ersten, langen Telefonats erfahren. Niemand in der Stadt schien Iqbal zu kennen, aber Pari begegnete schließlich einem alten Mann, einem Jugendfreund Iqbals, der ihm und seiner Familie auf einem brachliegenden Feld in der Nähe der alten Windmühle begegnet war. Iqbal hatte seinem Freund erzählt, dass er Geld von einem in Nordkalifornien lebenden, älteren Bruder erhalte. Und ich fragte ihn , erzählte Pari am Telefon, ich fragte, ob Iqbal den Namen dieses Bruders erwähnt habe, und der alte Mann antwortete: Ja, Abdullah, und danach – alors – war die Sache ganz einfach. Sie und Ihren Vater zu finden, meine ich.
Ich habe den Mann auch gefragt, wo Iqbal jetzt ist , sagte Pari. Ich wollte wissen, wie es ihm geht, und der alte Mann erwiderte, das wisse er nicht, sah mich dabei aber nicht an und wirkte plötzlich sehr nervös, und ich glaube, Pari, ich fürchte, dass Iqbal etwas Schlimmes zugestoßen ist.
Sie blättert weiter und zeigt mir Fotos ihrer Kinder, Alain, Isabelle und Thierry, Schnappschüsse ihrer Enkelkinder bei Geburtstagsfeiern und in Badesachen am Rand eines Pools. Ihre Wohnung in Paris, pastellblaue Wände, geschlossene, weiße Jalousien, Bücherregale. Ihr chaotisches Büro in der Universität, wo sie Mathematik
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