Traumschlange (German Edition)
auf Jean, der noch immer im Gesicht und am Ohr blutete.
„Er braucht einen Arzt.“ Sie nickte in Jeans Richtung.
„Ich bringe Sie ins Krankenhaus nach Cap Haïtien. Alle drei“, sagte Morse.
Er befahl einem der Beamten den Wagen vorzufahren. Als sich Abby in die weiche Polsterung sinken ließ, dauerte es keine drei Minuten und sie war eingeschlafen.
29. Hoffnung
Eine Woche war vergangen. Nun stand Abby neben Linda am Abflugschalter und reichte der Dame hinter dem Tresen ihre Tickets. Sie hatten nur wenig Gepäck und innerhalb von wenigen Minuten war die Prozedur vollendet.
Abby nahm Linda an der Hand und ging mit ihr zur Wartehalle hinüber. Jean Mitchard blickte von einem Magazin auf, in dem er geblättert hatte, als die beiden Schwestern auf ihn zukamen.
„Wann geht dein Flug?“, fragte er Abby.
„In knapp einer Stunde“, antwortete sie.
„Mhmm.“
Abby führte Linda zu einem der Stühle und sagte ihr, sie solle sich hinsetzen.
„Die Ärzte haben keine Hoffnung, dass sich ihr Zustand ändern könnte“, erklärte Abby. „Sie sagen, Linda würde für immer auf der geistigen Stufe eines Kleinkindes bleiben. Sie war zu lange im Grab gefangen. Ein Großteil ihrer Gehirnzellen ist durch den Sauerstoffmangel abgestorben.“
„Sie sieht glücklich aus“, meinte Jean.
„Ja“, seufzte Abby. „In ihrer Welt scheint immer die Sonne. Sie kennt keine Sorgen.“
„Ein fast beneidenswerter Zustand“, sagte Mitchard, entschuldigte sich aber mit einem Achselzucken, für diese Aussage.
Abby nahm es ihm nicht übel. Vielleicht war es auch gut so, wie es war. Linda erinnerte sich nicht mehr an ihren ‚Tod’, das anschließende Begräbnis und ihre Gefangenschaft. Sie lebte von einem Augenblick zum Nächsten. Für sie gab es kein gestern und kein morgen. Nur ein Jetzt.
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagte Abby. „Ich habe mit Spezialisten in England telefoniert, die mir erklärten, Lindas Zustand wäre keinesfalls hoffnungslos. Es gibt Therapien für solche Fälle, aber es kann Jahre dauern, bis sich Linda wieder selbstständig versorgen kann.“
„Du wirst für sie da sein“, meinte Jean.
„Ja, mit aller Kraft.“
Einige Minuten vergingen schweigend.
„Abby. Ich wollte dir schon lange...“
Ihr Finger legte sich über seinen Mund. „Sag es nicht, Jean. Ich fliege zurück nach London und kehre nie zurück. Du bist ein Teil dieser Insel und würdest nie wo anders leben wollen. Soweit kenne ich dich inzwischen. Dein Platz ist hier. Bei deinen Leuten.“
Jean sah sie traurig an. „Ich werde dich vermissen.“
Ihr Flug wurde aufgerufen. Abby erhob sich und nahm Linda wieder bei der Hand.
„Danke für alles, Jean.“
Dann wandte sie sich um und ging zum Gateway. Sie blickte nicht zurück, aber als sie der Stewardess ihr Ticket reichte, rannen Tränen über ihre Wangen.
Epilog
Julius Castor ließ den großen Mercedes im Schatten des Baumes ausrollen. Er drückte einen Knopf und die elektrischen Scheiben fuhren hoch. Als er die Wagentür öffnete, traf ihn die Mittagshitze mit voller Wucht. Castor brach der Schweiß aus. Er zog ein weißes Taschentuch aus der Hose und wischte sich über die feuchte Stirn.
Es waren nur wenige Meter bis zu dem weitläufigen Haus am Strand, das er vor drei Jahren nach seiner Flucht aus Haiti gemietet hatte. Trotzdem sah er den Bettler, der am Fuß der Holztreppe kauerte, erst, als er direkt vor ihm stand. Der alte Mann trug ausgebleichte Shorts aus denen dünne, knorrige Beine ragten. Sein blassblaues Hemd war an vielen Stellen verschlissen und stand offen, sodass Castor die Knochen aus dem eingefallenen Brustkorb ragen sehen konnte. Auf dem Kopf des Mannes saß ein verbeulter Strohhut bis weit ins Gesicht gezogen und verbarg das Antlitz des Alten. Eine dürre Hand streckte sich Castor entgegen.
„Ein Dollar, bitte?“
„Verpiss dich bloß von meinem Haus“, knurrte Castor und gab dem Alten einen Tritt, der ihn in den Sand warf. Der Bettler rappelte sich auf und schlich davon.
Verdammtes Gesockse, schimpfte Castor stumm. Jetzt kamen die Penner sogar an den Strand und belästigten die Leute. Er würde mit dem Polizeichef ein Wörtchen reden müssen. Die Menschen in dieser kleinen Stadt kannten ihn nur unter seinem falschen Namen, aber mit dem Geld von seinen versteckten Konten hatte er es in knapp drei Jahren zum größten Arbeitgeber der Umgebung gebracht. Eine Fischverarbeitungsfabrik und mehrere Fangboote gehörten
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