Traumzeit
brauchen Hilfe. Ich habe viele Freunde, und einer davon ist Anwalt. Ich könnte ihn bitten, nach dem Land zu suchen, das Sie geerbt haben. Denken Sie bitte darüber nach, Miss Drury. Vielleicht kommen Sie auch nur für einen Monat, damit wir einen Anfang finden, und ich werde Ihnen helfen, Ihre Sache in Gang zu bringen. Ich verspreche Ihnen, es wird nichts Unschickliches geschehen. Denken Sie darüber nach, während ich das Fuhrwerk hole.«
Joanna beobachtete ihn, als er in der Menge verschwand. Dann spürte sie eine kleine Hand, die sich in die ihre schob. Adam sah sie mit seinen großen grauen Augen fragend an, und Johanna dachte über diese unerwartete Wendung der Ereignisse nach.
Sie erinnerte sich an alles, was sie geopfert hatte, um hierher zu kommen. Sie hatte soviel zurückgelassen – ihre Freunde in Indien, die Städte, die sie so gut kannte, die Kultur, in der sie aufgewachsen war, und nicht zuletzt den gutaussehenden jungen Offizier, der bei der Beerdigung ihrer Mutter an ihrer Seite stand. Er hatte sie um ihre Hand gebeten …
Plötzlich bekam sie Heimweh. Sie beobachtete, wie die Leute Fuhrwerke und Kutschen bestiegen oder davonritten. Sie sah den dichten Verkehr auf den Straßen, die nach Melbourne führten, und ihr wurde bewußt, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein war – eine Fremde unter Fremden in einem unbekannten Land. Ohne die Bitte ihrer Mutter, nach Australien zu fahren, wäre es so einfach für sie gewesen, in Indien zu bleiben.
Sie mußte an den jungen Ureinwohner denken, der an Bord gekommen war. Warum hatte er sie so merkwürdig angesehen und sich geweigert, ihren Koffer zu tragen? Und dann fiel ihr ein, daß sie im Grunde überhaupt keine andere Wahl gehabt hatte, als nach Australien zu kommen.
Sie dachte wieder an Hugh Westbrook und gestand sich erstaunt ein, daß sie ihn eigentlich sehr anziehend fand. Er sah gut aus und war jung – ungefähr dreißig, vermutete sie. Aber es war mehr als das. Joanna kannte nur Männer mit makellosen Uniformen und diszipliniertem, absolut korrektem Benehmen. Selbst der Heiratsantrag des jungen Offiziers war steif und höflich gewesen, als halte er sich genau an eine Dienstvorschrift. Dieser junge Mann hätte nicht im Traum daran gedacht, eine Dame anzusprechen, der er nicht förmlich vorgestellt worden war. Westbrook dagegen wirkte ungezwungen und ausgeglichen. Er schien seinen eigenen Regeln zu folgen, und das gefiel Joanna.
Er hatte versprochen, ihr bei der Suche nach Karra Karra behilflich zu sein. Sie wußte, jemand mußte ihr helfen. Und er hatte gesagt, ihm sei Australien vertraut. Soll ich ihm auch den anderen Teil der Geschichte erzählen, überlegte sie, soll ich ihm von den Träumen erzählen und den schrecklichen Ereignissen, die ihnen folgen? Nein, das wollte sie nicht –
noch
nicht. Denn sie hatte ja selbst keine Erklärung dafür, war sich unsicher, ob diese Dinge tatsächlich oder nur in ihrer Einbildung existierten.
Als die Erinnerung an den jungen Ureinwohner auf dem Schiff wieder auftauchte – sein seltsamer Blick und die Abruptheit, mit der sich von ihr abgewendet hatte –, schob Joanna diesen Gedanken energisch beiseite. Das tat sie auch mit dem Traum von dem Schiff in der Flaute, der in Erfüllung gegangen war. Sie versuchte, sich statt dessen vorzustellen, wie Hugh Westbrooks Schaffarm sein mochte. Lag sie inmitten von sanften grünen Hügeln und saftigen Weiden wie die Farmen, die sie einst in England gesehen hatte? Standen dort große schattenspendende Eichen? Zirpten Sperlinge in einem Garten hinter der Küche? Oder unterschied sich Hugh Westbrooks Zuhause von den Farmen in England? Joanna hatte über Australien, diesen seltsamen und geheimnisvollen Kontinent, so viel wie möglich gelesen. In diesem Land gab es keine Huftiere, keine großen Raubkatzen. Die Bäume warfen im Herbst nicht die Blätter ab, sondern die Rinde, und einige behaupteten, die Ureinwohner seien die älteste Menschenrasse der Erde. Und plötzlich wurde Joanna neugierig. Ja, sie wollte das alles kennenlernen.
»Nun, Miss Drury? Wie lautet Ihre Antwort?«
Joanna drehte sich um und sah Hugh Westbrook an. Er hatte den Hut nicht wieder aufgesetzt, und ihr fiel auf, daß ihm die Haare kreuz und quer auf dem Kopf lagen. Sie kannte nur pomadisierte Männer, denn die Offiziere achteten sehr darauf, daß ihre geölten Haare immer glatt anlagen. Westbrooks lange Haare fielen locker und wellig in alle Richtungen, als habe er es aufgegeben,
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