Traumzeit
Teil Eins 1871
Kapitel Eins
1
Joanna träumte.
Sie sah sich am Arm eines hübschen jungen Offiziers, war dankbar für den Halt, den er ihr bot, doch über dieses Gefühl hinaus unempfindlich gegenüber seiner fürsorglichen Aufmerksamkeit. Sie nahm auch die englischen Soldaten in ihren schnittigen Uniformen und die vornehmen Damen in den eleganten Kleidern und Häubchen nicht wahr. Offiziere zu Pferde hoben die Säbel zum Salut, als man die beiden Särge in die Gräber gleiten ließ. Joannas Gedanken kreisten nur um eines: Sie hatte die beiden einzigen Menschen verloren, die sie liebte, mit achtzehn Jahren stand sie plötzlich allein auf der Welt.
Die Soldaten legten die Gewehre an und feuerten in die Luft. Joanna hob überrascht den Kopf, als über ihr der blaue Himmel aufriß. Durch den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht sah sie die Sonne – viel zu groß, viel zu heiß und der Erde zu nahe.
Als der Regimentskommandant an den Gräbern von Sir Petronius und Lady Emily Drury den Nachruf verlas, sah ihn Joanna erstaunt an. Weshalb sprach er so undeutlich? Sie verstand seine Worte nicht. Sie betrachtete die Menschen, die ihren Eltern die letzte Ehre erwiesen. Von den Dienstboten bis zu den höchsten Rängen des Heeres und indischer Würdenträger waren sie alle erschienen. Niemand außer ihr selbst schien die Rede des Kommandanten als undeutlich oder ungewöhnlich zu empfinden.
Joanna spürte, daß etwas nicht stimmte, und plötzlich hatte sie Angst.
Dann erstarrte sie. Am Rand der Menschenmenge sah sie einen Hund. Dieser Hund hatte ihre Mutter umgebracht.
Aber man hatte das Tier doch erschossen! Joanna war mit eigenen Augen Zeuge, als ein Soldat das Tier tötete! Und doch war dieser Hund wieder da. Seine schwarzen Augen schienen sie zu durchbohren. Als er sich jetzt geduckt und drohend in ihre Richtung bewegte, wollte Joanna schreien. Aber sie konnte nicht schreien.
Der Hund rannte in großen Sätzen auf sie zu, er sprang, aber anstatt sie anzugreifen, flog er geradewegs in den Himmel, begann zu glühen, explodierte und wurde zu zahllosen heißen, weißen Sternen.
Die Sterne kreisten am Himmel wie ein strahlendes Karussell von überwältigender Schönheit und majestätischer Macht.
Dann formten sich die Sterne am Himmel zu einem langen, gewundenen und mit Diamanten gepflasterten Weg. Doch eigentlich war es kein richtiger Weg, denn er bewegte sich.
Aus dem Weg wurde eine riesige Schlange, die über den tiefschwarzen Nachthimmel glitt.
Der diamantene Körper der Schlange funkelte und leuchtete in den Farben des Regenbogens. Er entrollte sich langsam und kroch auf sie zu. Joanna spürte, wie die kalte Hitze des Sternenfeuers sie erfaßte. Der gewaltige Schlangenleib wurde größer, immer größer, bis sie mitten auf dem Kopf der Sternenschlange ein einziges feurig leuchtendes Auge sah. Die Schlange öffnete das Maul, und Joanna sah den schwarzen Schlund – ein Tunnel des Todes, der sie verschlingen wollte.
Sie schrie.
Joanna schlug die Augen auf und wußte zuerst nicht, wo sie sich befand. Dann spürte sie das sanfte Wiegen des Schiffs und sah im schwachen Licht die Wände der Kabine. Jetzt erinnerte sie sich: Sie war an Bord der
Estella
auf dem Weg nach Australien.
Sie setzte sich auf und griff nach den Streichhölzern, die auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lagen. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie die Lampe nicht anzünden konnte. Sie legte sich das Umschlagtuch um die Schultern, stand auf und ging zum Bullauge. Mit Mühe gelang es ihr schließlich, es zu öffnen. Die kalte Meerluft strich ihr über das glühende Gesicht. Sie schloß die Augen und versuchte, sich zu beruhigen.
Der Traum war so wirklich gewesen.
Sie holte tief Luft und fand die vertrauten Geräusche des Schiffs tröstlich – das Quietschen der Takelage und das Knarren der Masten. Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Es war nur ein Traum«, murmelte sie leise, »wieder ein Traum …«
»Sind Träume unsere Verbindung mit der geistigen Welt?« hatte Joannas Mutter, Lady Emily, in ihr Tagebuch geschrieben. »Sind sie Botschaften oder Warnungen oder geben sie Antworten auf die Geheimnisse dieser Welt?«
»Ich wünschte, ich wüßte es, Mutter«, flüsterte Joanna und starrte auf das endlose Meer, das sich bis zu den Sternen erstreckte.
Sie hatte die Sterne über Indien immer als strahlend und überwältigend empfunden. Aber jetzt fand Joanna, sie seien nicht mit dem einzigartigen Schauspiel an
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