Traumzeit
Augen. Ihr wurde plötzlich bewußt, was sie gesagt hatte. Die Sippe mußte John Makepeace bestraft haben. Sie hatten die wilden Hunde auf ihn gehetzt, als er mit dem Opal aus der Höhle zurückkehrte. Und die dreieinhalbjährige Emily mußte mit angesehen haben, wie die Hunde ihn zerfleischten.
»Jetzt verstehe ich alles«, flüsterte Joanna und dachte an das, was sich vor mehr als fünfzig Jahren hier in der Nähe ereignet haben mußte – der junge Engländer konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Opal an sich zu nehmen. Die Frauen des Stammes entdeckten den Diebstahl, und das Urteil wurde von den Hunden vollstreckt … Und was war aus Naomi geworden? Wurde sie auch auf diese schreckliche Weise bestraft, weil sie ihrem Mann das Geheimnis verraten hatte?
»Der Opal gehört hierher«, sagte Joanna schließlich. »Wir müssen ihn der Schlange zurückgeben.« Und wenn wir das tun, dachte sie, ist das Verbrechen meiner Familie gesühnt.
Joanna reichte Lisa den Beutel, dann ging sie an einer schmalen Stelle über das Wasser und schob den Opal in die Augenhöhlung. Während sie den kostbaren Edelstein drehte, bis er richtig saß, öffnete Lisa erregt den Lederbeutel, denn ihr war etwas eingefallen. Sie sah die gerollte Urkunde und nahm sie heraus. Neugierig entfernte sie das Band und hielt staunend das alte Dokument in den Händen. In dem grünen Licht konnte sie erstaunlich gut lesen, was auf der Urkunde stand. Als sie die Stelle erreichte, wo der Text unleserlich wurde: ›Zwei Tagesritte von … und zwanzig Kilometer von Bo … Creek‹, erinnerte sie sich plötzlich an den Wegweiser in der Nähe von Schwester Veronikas Krankenstation.
Bustard Creek, 20 km nach Süden
und
Durrakai.
»Mutter!« rief Lisa aufgeregt. »Ich glaube, ich weiß, wo das Land liegt! Ich meine das Land, auf das sich die Urkunde bezieht. Es ist dort, wo die Nonnen leben. Du weißt doch, das Krankenhaus in der Nähe von Kalagandra!«
»Wenn es das Land ist, das mit dieser Urkunde gekauft wurde, dann müssen meine Großeltern geplant haben, sich dort niederzulassen. Stell dir vor, Lisa, wir hatten es gefunden, ohne etwas davon zu ahnen.«
»Was willst du mit dem Land tun, Mutter?«
Joanna dachte an Schwester Veronika. Sie hatte die kleine Emily Makepeace in ihre Obhut genommen, als das Kind aus der Wüste gekommen war. Wenn die Urkunde noch Gültigkeit besaß und sie das Land als ihr Eigentum beanspruchen konnte, dann wußte Joanna, was sie damit tun würde. »Die lebenslange Arbeit der Nonnen ist bedroht, da die Regierung ihnen das Land wegnehmen will. Ich glaube, das könnte ich verhindern«, erwiderte sie und Lisa nickte.
Als der Feueropal wieder an seinem Platz saß und das Auge der Regenbogenschlange grün und rot funkelte, sagte Lisa: »Glaubst du, Mutter, die Frauen werden wieder in den Berg kommen, jetzt, wo die Schlange ihr Auge zurückhat? Ich meine, werden sie ihre Rituale abhalten wie früher?«
»Ich weiß nicht, Lisa. Vielleicht nicht. Der Kreislauf ist unterbrochen. Es sind viele Jahre vergangen, und es ist so viel geschehen, seit die letzten Mütter mit ihren Töchtern hier waren. Nicht einmal Naliandrah weiß genau, was für ein Ritual im Berg stattfand. Vielleicht ist das Wissen für immer verloren. Vielleicht sind wir beide, du und ich, die letzten, die vor der Regenbogenschlange stehen.«
Lisa dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie: »Glaubst du, daß wirklich ein Fluch auf unserer Familie lag?«
»In bestimmtem Sinne, ja. Meine Mutter hat daran geglaubt. Und damit wurde er real, wenn auch nur in ihrem Bewußtsein. Aber das ist jetzt vorbei. Wir sind davon befreit.«
Joanna dachte an Hugh und wie sehr sie sich nach ihm sehnte. »Komm, wir gehen nach Hause.«
Nach einem letzten Blick auf die majestätische Regenbogenschlange machten sie sich auf den Weg und begannen den langen Aufstieg zurück zum Licht.
Über Barbara Wood
Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹. Die Recherchen für ihre Bücher führten sie um die ganze Welt. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet. Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
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