Traveler - Roman
er eine vorsichtig formulierte Nachricht ab, die er per E-Mail an alle wissenschaftlichen Stipendiaten der Evergreen Foundation senden würde. Er erwähnte die Traveler mit keinem Wort, erbat sich aber ausführliche Informationen über Psychopharmaka, deren Verabreichung Visionen von anderen Welten hervorriefen.
Um sechs Uhr abends erfasste das Protective-Link-System Lawrence, als er das Forschungszentrum verließ und zu seinem Haus fuhr. Er verriegelte die Tür, entledigte sich seiner Arbeitskleidung, zog einen schwarzen Bademantel aus Frottee über und betrat sein Geheimzimmer.
Er wollte Linden über den neuesten Stand des Transzendenz-Projekts informieren, doch sobald er im Internet war, begann oben links auf seinem Computerbildschirm ein kleiner blauer Kasten zu blinken. Vor zwei Jahren, kurz nachdem er einen neuen Zugangscode zum Computernetzwerk der Bruderschaft erhalten hatte, entwarf Lawrence ein spezielles Programm, das Daten über seinen Vater sammelte. Das Programm huschte durchs Internet wie ein Wiesel, das in einem
alten Haus nach Ratten jagt. Heute hatte es in den Akten des Polizeicomputers von Osaka Informationen über Lawrences Vater aufgespürt.
Auf Sparrows Fotografie waren zwei Schwerter zu sehen: eins mit Goldintarsien im Griff, ein weiteres mit Intarsien aus Jade. In Paris hatte Linden erklärt, die Mutter von Lawrence habe das Jadeschwert einem Harlequin namens Thorn übergeben; der wiederum reichte es an die Familie Corrigan weiter. Lawrence vermutete, dass Gabriel das Schwert bei sich hatte, als Boone und seine Söldner die Kleiderfabrik angriffen.
Ein Jadeschwert. Ein Goldschwert. Vielleicht gab es noch andere. Lawrence hatte gelernt, dass der berühmteste japanische Schwertschmied ein Mönch namens Masamune war, der seine Klingen im dreizehnten Jahrhundert herstellte. Damals versuchten die Mongolen, Japan zu erobern. Der regierende Kaiser verordnete Gebetsrituale in buddhistischen Tempeln, und viele berühmte Schwerter entstanden als religiöse Opfergaben. Masamune persönlich schmiedete ein perfektes Schwert mit einem Diamanten im Griff. Es sollte seine zehn Lehrlinge, die Jittetsu, inspirieren. Während ihrer Lehrzeit fertigte jeder von ihnen eine besondere Waffe als Geschenk für den Meister an.
Lawrences Computerprogramm hatte die Website eines buddhistischen Priesters ausfindig gemacht, der in Kyoto lebte. Auf der Seite standen die Namen der zehn Jittetsu und ihrer Schwerter.
Schmied – Schwert
Hasabe Kinishige – Silber
Kanemitsu – Gold
Go Yoshihiro – Holz
Naotsuna – Perlmutt
Sa – Knochen
Rai Kunitsugu – Elfenbein
Kinju – Jade
Shizu Kaneuji – Eisen
Chogi – Bronze
Saeki Norishige – Koralle
Ein Jadeschwert. Ein Goldschwert. Die übrigen Jittetsu-Schwerter waren verloren gegangen, vermutlich bei Erdbeben und in Kriegen; die zu ihrem Schicksal verdammten japanischen Harlequins hatten es jedoch über Generationen hinweg geschafft, zwei der heiligen Waffen zu retten. Jetzt besaß Gabriel Corrigan eine von ihnen; die andere hatte einst in einem Festsaal ein Blutbad unter den Yakuza angerichtet.
Das Suchprogramm arbeitete sich durch die Polizeiprotokolle und übersetzte die japanischen Schriftzeichen ins Englische. Antikes Tachi (Langschwert). Griff mit Goldintarsien. Aktenzeichen 15433. Beweisstück fehlt.
Fehlt nicht, dachte Lawrence. Die Bruderschaft musste der Polizei von Osaka das Schwert gestohlen haben. Möglicherweise befand es sich in Japan oder Amerika, oder es wurde im Forschungszentrum aufbewahrt, nur wenige Schritte von seinem Schreibtisch entfernt.
Lawrence Takawa verspürte den überwältigenden Drang, auf der Stelle ins Zentrum zurückzufahren. Er riss sich zusammen und schaltete den Computer aus. Als Kennard Nash ihm zum ersten Mal vom virtuellen Panopticon erzählt hatte, war es nichts weiter als eine philosophische Vision gewesen. Inzwischen jedoch lebte er tatsächlich in einem unsichtbaren Gefängnis. Es würde nicht länger als eine oder zwei Generationen dauern, bis jeder Bürger der Industrienationen von derselben Tatsache ausgehen musste: dass er vom System verfolgt und überwacht wurde.
Ich bin allein, dachte Lawrence. Ja, vollkommen allein. Und dann setzte er wieder seine Maske auf, die ihn aufmerksam, pflichteifrig und gehorsam erscheinen ließ.
FÜNFUNDDREISSIG
M anchmal kam es Dr. Richardson so vor, als wäre sein bisheriges Leben unwiederbringlich dahin. Er träumte davon, nach New Haven zurückzukehren. Wie ein Geist
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