Traveler - Roman
aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte stand er in der Kälte und Dunkelheit auf der Straße vor seinem Haus, während seine alten Freunde und Kollegen drinnen saßen, lachten und Wein tranken.
Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er niemals seinen Wohnsitz ins Forschungszentrum in Westchester County hätte verlegen dürfen. Er hatte gedacht, seine Kündigung in Yale wäre eine Angelegenheit von Wochen; doch wie sich herausstellte, besaß die Evergreen Foundation innerhalb der Universität enormen Einfluss. Der Dekan der medizinischen Fakultät von Yale hatte Richardsons Sabbatjahr bei voller Bezahlung persönlich zugestimmt – und später gefragt, ob die Stiftung vielleicht an einer Spende zum Aufbau eines neuen genetischen Forschungslabors interessiert sei. Lawrence Takawa fand einen Neurologen der Columbia University, der sich bereit erklärte, dienstags und donnerstags nach Yale zu fahren, um dort Richardsons Studenten zu unterrichten. Fünf Tage nach seinem Gespräch mit General Nash standen zwei Wachleute vor Richardsons Tür, halfen ihm beim Packen und brachten ihn auf das Forschungsgelände.
Sein neuer Lebensraum war komfortabel, aber eingeschränkt. Lawrence Takawa hatte Dr. Richardson einen Protective-Link-Ausweis zum Anstecken überreicht, der seinen Zugang zu den verschiedenen Abteilungen der Einrichtung
regelte. Richardson war frei, die Stiftungsbibliothek und das Verwaltungsgebäude zu betreten; die Informatikabteilung, das genetische Forschungslabor und das fensterlose »Grab« blieben ihm jedoch verschlossen.
Während seiner ersten Woche im Forschungszentrum hatte er im Keller der Bibliothek versuchsweise an den Hirnen von Hunden, Schimpansen und an dem einer übergewichtigen Leiche operiert, die einen weißen Bart trug und von den Mitarbeitern »Kris Kringle« genannt wurde. Nun, da die teflonummantelten Drähte in Michael Corrigans Kopf saßen, verbrachte Richardson seine Zeit in dem kleinen Apartment im Verwaltungsgebäude oder an seinem separaten Arbeitsplatz in der Bibliothek.
Das so genannte Green Book enthielt eine Zusammenfassung der aufwändigen neurologischen Forschungsarbeiten, die man bislang über Traveler angestellt hatte. Keiner dieser Berichte war jemals veröffentlicht worden, und die Namen der unterschiedlichen Forschungsteams versteckten sich hinter dicken schwarzen Balken. Offensichtlich hatten die chinesischen Wissenschaftler versucht, den tibetischen Travelern mit Folter beizukommen; in den Fußnoten wurde der Einsatz von Chemikalien und Elektroschocks beschrieben. War ein Traveler während der Tortur gestorben, tauchte neben der Nummer seines Fallbeispiels ein diskretes Kreuzchen auf.
Dr. Richardson hatte das Gefühl, die Funktionsweise des Gehirns eines Travelers prinzipiell verstanden zu haben. Das Nervensystem produziert eine schwache elektrische Spannung. Wenn der Traveler in Trance fiel, wurde diese Spannung stärker und war als pulsierendes Muster deutlich zu erkennen. Dann schien sich das Gehirn plötzlich abzuschalten. Atmung und Herzschlag gingen auf ein Minimum zurück. Abgesehen von einer schwachen Restaktivität im verlängerten Rückenmark war der Patient medizinisch betrachtet hirntot. Während
dieses Zeitabschnitts befand sich die neurale Energie des Travelers in einer anderen Sphäre.
Die meisten Traveler hatten einen Elternteil oder sonstigen Verwandten, der dieselbe Fähigkeit besaß. Es gab jedoch Ausnahmen. Ein Traveler konnte in eine Bauernfamilie im ländlichen China hineingeboren werden, deren Vorfahren niemals in andere Welten übergewechselt waren. Ein Forschungsteam der Universität von Utah erstellte gegenwärtig einen geheimen Stammbaum, der die Daten aller Traveler und ihrer Ahnen erfasste.
Dr. Richardson wusste nicht genau, welche Informationen geheim waren und welche er an sein Team weitergeben durfte. Der Anästhesist Dr. Lau und die OP-Schwester Miss Yang waren für das Experiment aus Taiwan eingeflogen worden. Als sie zu dritt in der Cafeteria aßen, hatten sie nur über alltägliche Dinge und Miss Yangs Vorliebe für altmodische amerikanische Musicals geredet.
Richardson war nicht danach zumute, sich über The Sound of Music oder Oklahoma zu unterhalten. Er machte sich Sorgen über ein mögliches Scheitern des Experiments. Sie hatten keinen Wegweiser, der Michael anleiten würde, und verfügten auch nicht über geeignete Psychopharmaka, um das Licht aus dem Körper des Travelers zu zwingen. Der Neurologe schickte eine
Weitere Kostenlose Bücher