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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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einem Klub noch einer politischen Partei an. Sein wichtigster Grundsatz war, auch zukünftig jenseits des Rasters zu leben. Im Wörterbuch wurde ein Raster als Gitter aus senkrechten und waagerechten Linien in immer gleichem Abstand definiert, die dazu benutzt werden konnten, einen Gegenstand oder Punkt zu lokalisieren. Wenn man sich die moderne Zivilisation aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtete, fiel auf, dass jedes Wirtschaftsunternehmen und jede Regierungsbehörde Teil eines riesigen Rasters war. Mittels der Linien und Quadrate konnte ein Mensch aufgespürt und sein exakter Aufenthaltsort ermittelt werden. Man konnte fast alles über ihn herausbekommen.
    Das Raster bestand aus geraden Linien über einer ebenen Fläche, aber es war noch immer möglich, ein Leben außerhalb des Rasters im Geheimen zu führen. Ein Mensch konnte in der Schattenwirtschaft arbeiten oder sich so schnell von einem Ort zum nächsten bewegen, dass es nicht möglich war, mit Hilfe der Linien seinen exakten Aufenthaltsort zu bestimmen. Gabriel besaß weder ein Bankkonto noch eine Kreditkarte. Er benutzte stets seinen richtigen Vornamen, aber der Nachname auf seinem Führerschein war falsch. Zwar hatte er zwei Handys, eines für private Telefonate und eines für berufliche, aber die Rechnungen gingen an die Immobilienfirma seines Bruders.

    Gabriels einzige Verbindung zum Raster stand auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer. Vor einem Jahr hatte Michael ihm einen Computer mit DSL-Anschluss geschenkt. Der Internetzugang ermöglichte es Gabriel, sich Trancemusik aus Deutschland herunterzuladen, hypnotische Sound-Loops, produziert von DJs, die zum Dunstkreis einer geheimnisvollen Band namens Die Neuen Primitiven gehörten. Die Musik half ihm wie so oft auch heute beim Einschlafen. Er schloss die Augen und hörte zu, wie eine Frau sang: Lotus eaters lost in New Babylon. Lonely Pilgrim find your way home.
     
    Im Traum stürzte er durch die Dunkelheit, durch Wolken, Schnee und Regen. Er landete auf einem Hausdach, durchstieß die Teerpappe, die Dachschindeln und die Holzdecke. Er war wieder ein Kind und stand im oberen Flur ihres Bauernhauses in South Dakota. Das Haus brannte. Das Bett seiner Eltern, die Kommode und der Schaukelstuhl in ihrem Zimmer fingen qualmend Feuer. Sieh zu, dass du wegkommst, sagte er zu sich selbst. Such Michael. Aber der kleine Junge, der den Flur entlangging, schien die Befehle des Erwachsenen nicht zu hören.
    Hinter einer Wand ertönte eine Explosion und kurz darauf ein lautes Rumsen. Dann loderte das Feuer die Treppe hinauf, umschloss das Geländer und die Pfosten. Starr vor Angst stand Gabriel im Flur und blickte den sengenden Flammen entgegen, die auf ihn zugerast kamen.
     
    Das Handy, das neben dem Futon lag, begann zu klingeln. Gabriel hob den Kopf vom Kissen. Es war sechs Uhr früh, und durch den Spalt zwischen den Gardinen fiel Licht. Kein Feuer, beruhigte er sich. Bloß ein weiterer Tag.
    Er nahm den Anruf entgegen und hörte die Stimme seines Bruders. Michael klang besorgt, aber das war normal. Schon in Kindertagen hatte Michael gerne die Rolle des verantwortungsvollen
älteren Bruders übernommen. Jedes Mal, wenn er im Radio von einem Motorradunfall hörte, rief er Gabriel an, um sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war.
    »Wo bist du?«, fragte Michael.
    »Zu Hause. Im Bett.«
    »Ich hab dich gestern fünfmal angerufen. Wieso hast du nicht zurückgerufen?«
    »Gestern war Sonntag. Ich hatte keine Lust zu telefonieren. Ich hab die Handys zu Hause gelassen und bin zum Fallschirmspringen nach Hemet gefahren.«
    »Tu, was du willst, aber sag mir, wo du bist. Ich mache mir Sorgen, wenn ich es nicht weiß.«
    »Okay. Ich versuche, dran zu denken.« Gabriel drehte sich auf die Seite und betrachtete seine Stiefel mit den Stahlspitzen und seine Ledermontur, die unordentlich auf dem Boden lag. »Wie war dein Wochenende?«
    »Nichts Besonderes. Ich habe Rechnungen bezahlt und mit zwei Bauunternehmern Golf gespielt. Warst du bei Mom?«
    »Ja, am Samstag.«
    »Wie gefällt es ihr im Hospiz?«
    »Ganz gut.«
    »Ganz gut ist mir zu wenig.«
    Als ihre Mutter vor zwei Jahren wegen einer harmlosen Blasenoperation ins Krankenhaus musste, fanden die Ärzte bei ihr einen bösartigen Tumor an der Bauchdecke. Trotz Chemotherapie bildete der Krebs Metastasen, die sich über ihren gesamten Körper ausbreiteten. Seit kurzem lebte sie in einem Hospiz in Tarzana, einer am Südrand des San Fernando Valley gelegenen

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