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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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dann sah sie sein Gesicht.

VIER
    G abriel Corrigan und sein älterer Bruder Michael hatten in ihrer Jugend ein Vagabundenleben geführt und hielten sich daher für Experten, was Fernfahrerlokale, Ferienhütten und Museen am Straßenrand, in denen Dinosaurierknochen ausgestellt waren, anging. Während der vielen Stunden, die sie auf Autofahrten verbrachten, saß ihre Mutter zwischen ihnen auf dem Rücksitz und las ihnen Bücher vor oder erzählte ihnen Geschichten. Eine ihrer Lieblingsgeschichten handelte von Edward V. und seinem Bruder, dem Herzog von York, den zwei jungen Prinzen, die von Richard III. in den Londoner Tower eingesperrt worden waren. Der Mutter von Gabriel und Michael zufolge hatte einer von Richards Gefolgsleuten den Auftrag, die beiden Prinzen zu erwürgen, aber ehe es dazu kam, entdeckten sie einen Geheimgang im Tower und schwammen durch einen Wassergraben in die Freiheit. Als Bettler getarnt, erlebten sie zusammen mit Merlin und Robin Hood unzählige Abenteuer im England des fünfzehnten Jahrhunderts.
    Als Kinder spielten die Corrigan-Brüder oft in Parks und Raststätten »entflohene Prinzen«. Aber inzwischen waren sie erwachsen, und Michael ärgerte sich rückblickend. »Ich habe in einem Geschichtsbuch nachgelesen«, sagte er. »Die beiden Prinzen sind gar nicht mit dem Leben davongekommen. Richard III. hat sie umbringen lassen.«
    »Was spielt das schon für eine Rolle?«, meinte Gabriel.
    »Sie hat uns angelogen, Gabe. Es war eines ihrer Ammenmärchen. Mom hat uns als Kinder all diese Geschichten erzählt, aber die Wahrheit hat sie uns verschwiegen.«

     
    Gabriel respektierte Michaels Ansicht: Es war von Vorteil, alle Tatsachen zu kennen, aber manchmal rief er sich noch heute zum Spaß eine der Geschichten seiner Mutter ins Gedächtnis. Am Sonntagmorgen brach er noch vor der Morgendämmerung in Los Angeles auf und fuhr in der Dunkelheit auf dem Motorrad nach Hemet. Während er an einer Discount-Tankstelle Halt machte und in einem kleinen Café frühstückte, kam er sich wieder wie ein Prinz vor, der allein und inkognito unterwegs war. Gerade als er vom Highway abbog, löste sich die Sonne wie eine grell-orangefarbene Scheibe vom Horizont. Es sah aus, als hätte sie die Schwerkraft überwunden und würde emporschweben.
     
    Der Flughafen von Hemet bestand aus einer Start- und-Landebahn aus Asphalt, in dessen Ritzen Unkraut wuchs, einem Hangar für die Flugzeuge und einer Ansammlung schäbiger Wohnwagen und Bürocontainer. Das Büro des HALO-Veranstalters war ein Wohnwagen in doppelter Breite am südlichen Ende der Start- und-Landebahn. Gabriel stellte das Motorrad am Eingang ab und nahm seine Ausrüstung, die er auf dem Gepäckträger festgeschnallt hatte.
    High-Altitude-Jumps, Fallschirmsprünge aus großer Höhe, waren teuer, und Gabriel hatte Nick Clark, dem HALO-Lehrer, gesagt, dass er sich zukünftig nur noch einen Sprung pro Monat genehmigen werde. Das war allerdings erst zwölf Tage her. Als er den Wohnwagen betrat, grinste Nick ihn an wie ein Buchmacher beim Begrüßen eines Stammkunden.
    »Du kannst es also doch nicht lassen?«
    »Ich hab ein paar zusätzliche Dollar verdient«, erklärte Gabriel, »und wusste nicht, wofür ich sie ausgeben soll.« Er gab Nick einige Geldscheine und verschwand in die Herrentoilette, um seine Thermounterwäsche und seine Sprungkombi anzuziehen.
    Als Gabriel zurückkam, waren fünf Koreaner eingetroffen.
Sie trugen identische grün-weiße Overalls, hatten eine teure Sprungausrüstung dabei und außerdem Pappkarten, bedruckt mit nützlichen englischen Sätzen. Nick verkündete, dass Gabriel zusammen mit ihnen springen werde, woraufhin die Koreaner ihm die Hand schüttelten und ihn fotografierten.
    »Wie viele HALO-Sprünge Sie machen?«, fragte einer der Männer.
    »Ich führe nicht Buch«, meinte Gabriel.
    Nachdem seine Antwort übersetzt worden war, schauten ihn alle verblüfft an. »Führen Sie Buch«, riet der älteste der Männer ihm. »Dann wissen Sie die Zahl.«
    Nick sagte den Koreanern, das Flugzeug werde gleich starten, und die Gruppe begann, eine detaillierte Checkliste durchzugehen. »Diese Typen haben vor, in jedem der sieben Kontinente einen High-Altitude-Jump zu machen«, flüsterte Nick. »Kostet sie bestimmt ein Heidengeld. Wenn sie über der Antarktis abspringen, müssen sie spezielle Raumfahrtanzüge tragen.«
    Gabriel mochte die Koreaner – sie nahmen das Springen ernst –, aber er war am liebsten allein, wenn er seine

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