Traveler - Roman
zurück. Er war zwar von Gedanken erfüllt, dachte aber nichts. All die Zweifel und Kompromisse, die sein
Leben auf dem Erdboden bestimmten, hatten sich verflüchtigt.
Sein am Handgelenk befestigtes Höhenmessgerät begann laut zu piepen. Erneut drehte er sich um. Er starrte auf die mattbraune Landschaft Südkaliforniens und einen entfernt gelegenen Gebirgszug hinunter. Als er sich der Erde noch weiter näherte, erkannte er Autos, Siedlungen aus Einfamilienhäusern und den gelblichen Abgasdunst über dem Highway. Gabriel wäre am liebsten ewig im freien Fall geblieben, aber eine leise Stimme in seinem Kopf befahl ihm, die Reißleine zu ziehen.
Er schaute zum Himmel empor – versuchte, sich den Anblick genau einzuprägen –, dann wölbte sich die Fallschirmkappe über ihm.
Gabriel wohnte in einem Haus im Westen von Los Angeles, das fünf Meter vom San Diego Freeway entfernt stand. Nachts bewegte sich ein weißer Strom aus Scheinwerferlicht durch den Sepulveda Pass nach Norden, während parallel dazu ein Fluss aus rotem Rücklicht gen Süden, in Richtung der Küstenstädte und der mexikanischen Grenze strebte. Nachdem Gabriels Vermieter Mr. Varosian herausgefunden hatte, dass in seinem Haus siebzehn Erwachsene und fünf Kinder wohnten, hatte er dafür gesorgt, dass sie alle in ihre Heimat El Salvador zurückgeschickt wurden. Anschließend hatte er eine Anzeige aufgegeben, in der es hieß: »Allein stehender Mieter, keine einzige Person zusätzlich.« Er nahm an, Gabriel sei in irgendwelche illegalen Aktivitäten verwickelt – ein Nachtklub ohne Lizenz oder Handel mit gestohlenen Autoteilen. Mr. Varosian scherte sich nicht um Autoteile, aber ein paar Regeln waren ihm wichtig. »Keine Waffen. Keine Drogenküche. Keine Katze.«
Gabriel hörte selbst im Haus das ständige Rauschen der südwärts fahrenden Autos, Lkws und Busse. Jeden Morgen ging er bis zu dem Drahtzaun am hinteren Rand des Grundstücks,
um zu sehen, was die Stadtautobahn an Strandgut zurückgelassen hatte. Immer wieder warfen Leute Dinge aus dem Auto: Fastfood-Verpackungen, Zeitungen, eine Barbiepuppe mit toupiertem Haar, Handys, ein angebissenes Stück Ziegenkäse, benutzte Kondome, Gartenwerkzeuge, sogar eine Plastikurne aus dem Krematorium, gefüllt mit Asche und halb verbrannten Zähnen.
Die freistehende Garage war mit Graffiti von Jugendgangs besprüht, und im Vorgarten wucherte Unkraut, aber Gabriel unternahm nichts dagegen. Der heruntergekommene Eindruck war für ihn eine Tarnung, so wie die Bettlerlumpen der beiden Prinzen. Im Sommer zuvor hatte er auf einem Flohmarkt den Sticker einer religiösen Gruppe gekauft, deren Botschaft lautete: »Wir sind auf alle Zeit verdammt, es rette uns denn das Blut des Erlösers.« Gabriel hatte an den Rändern so viel abgeschnitten, dass nur noch »auf alle Zeit verdammt« übrig geblieben war, und diesen Rest des Stickers außen an seine Haustür geklebt. Jedes Mal, wenn ein Immobilienmakler oder ein Handelsvertreter das Haus mied, hatte er das Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben.
Innen wirkte das Haus sauber und aufgeräumt. Vormittags schien ab einem bestimmten Zeitpunkt das Sonnenlicht in die Räume. Seine Mutter hatte ihm gesagt, dass Pflanzen die Luft reinigen und positive Gedanken stimulieren, deshalb besaß Gabriel mehr als dreißig Pflanzen, die in Töpfen von der Decke hingen oder auf dem Boden standen. Er schlief auf einem Futon in einem der beiden Schlafzimmer und bewahrte seine Habe in einigen großen Segeltuchtaschen auf. Sein Kempo-Helm und seine Kempo-Rüstung befanden sich auf einem speziellen Gestell neben dem Ständer, auf dem ein Shinai-Schwert aus Bambus und das alte japanische Schwert, das ihm sein Vater vererbt hatte, lagen. Wenn er nachts aufwachte und die Augen öffnete, sah es so aus, als bewachte ihn im Schlaf ein Samurai.
Das zweite Schlafzimmer diente ihm ausschließlich als Aufbewahrungsort
für mehrere hundert Bücher, die sich in Stapeln an den Wänden türmten. Statt sich einen Bibliotheksausweis zu besorgen und gezielt nach Büchern zu suchen, las Gabriel die Bücher, auf die er zufällig stieß. Oft bekam er von seinen Kunden Bücher, die sie ausgelesen hatten, oder er nahm Bücher mit, die jemand in einem Wartezimmer zurückgelassen oder auf der Stadtautobahn aus dem Auto geworfen hatte. Er besaß Taschenbuch-Bestseller mit grellem Umschlag, Abhandlungen über Metalllegierungen, aber auch drei wasserfleckige Dickens-Romane.
Gabriel gehörte weder
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