Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
übermittelt.
    Im Gegensatz zur britischen Regierung mussten die Tabula weder auf Gesetze noch auf die Bedenken von Staatsdienern Rücksicht nehmen. Ihre Organisation war relativ klein und finanziell gut ausgestattet. Die Angestellten in ihrem Londoner Rechenzentrum waren in der Lage, sich Zugang zu den Aufzeichnungen der Überwachungskameras zu verschaffen und sie mit Hilfe einer leistungsstarken Scannersoftware zu durchforsten. Zum Glück gab es in Nordamerika und Europa so viele Überwachungskameras, dass die Tabula geradezu in Daten ertranken. Selbst wenn sie eine exakte Übereinstimmung mit einer ihrer abgespeicherten Aufnahmen feststellten, konnten sie nicht schnell genug reagieren, um rechtzeitig an einem Bahnhof oder in einer Hotellobby zu sein. Niemals anhalten, hatte Thorn seiner Tochter eingebläut. Solange du ständig in Bewegung bist, können sie dich nur schwer fassen.
    Gefährlich wurde es für einen Harlequin, wenn er in die Angewohnheit verfiel, sich tagtäglich auf demselben Weg an ein bestimmtes Ziel zu begeben. Irgendwann würden die Gesichtsscanner die Regelmäßigkeit registrieren, und dann
konnten die Tabula einen Hinterhalt organisieren. Thorn hatte sich immer vor Situationen in Acht genommen, die er »Kanäle« oder »Box-Canyons« nannte. Um einen Kanal handelte es sich, wenn man gezwungen war, eine genau vorgegebene, von den Behörden überwachte Route zu nehmen. Ein Box-Canyon war ein Kanal, der an einen Ort ohne Fluchtmöglichkeit führte – beispielsweise ein Flugzeug oder ein Befragungsraum einer Einwanderungsbehörde. Die Tabula hatten den Vorteil, dass sie über Geld und technische Ausrüstung verfügte. Harlequins überlebten nur dank ihres Muts und ihrer Fähigkeit zu bewusst zufälligem Handeln.
    Nach ihrer Ankunft in London fuhr Maya mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Highbury & Islington, aber sie ging nicht zu ihrer Wohnung, sondern in ein nahe gelegenes Takeout-Restaurant namens Hurry Curry. Sie gab dem Jungen, der für die Lieferungen zuständig war, einen ihrer Haustürschlüssel und sagte ihm, er solle das von ihr bestellte Hühnerfleischgericht in zwei Stunden hinter der Tür abstellen. Als es dämmerte, kletterte sie auf das Dach des Highbury Barn, eines Pubs gegenüber ihrer Wohnung. Hinter einem Lüftungsrohr verborgen beobachtete sie die Leute, die den Weinladen im Erdgeschoss ihres Hauses betraten. Bürger mit Aktentaschen und Einkaufstüten strebten heimwärts. Nahe der Tür zu ihrer Wohnung parkte ein weißer Lieferwagen, in dessen Fahrerkabine niemand saß.
    Pünktlich um halb acht tauchte der indische Junge von Hurry Curry auf. In dem Moment, in dem er die Tür aufschloss, die nach oben in ihre Wohnung führte, sprangen zwei Männer aus dem Lieferwagen und stießen ihn ins Haus. Vielleicht würden sie den Jungen umbringen, vielleicht auch nur ein paar Fragen stellen und ihn dann gehen lassen. Maya kümmerte das nicht. Sie hatte sich wieder die Mentalität eines Harlequins zu Eigen gemacht: kein Mitleid, keine persönlichen Bindungen, keine Gnade.

    Sie übernachtete in einer Wohnung in East London, die ihr Vater vor vielen Jahren gekauft hatte. Ihre Mutter lebte dort bis zu ihrem Tod durch Herzinfarkt – Maya war damals vierzehn  – inmitten der vielen anderen Asiaten. Die Dreizimmerwohnung befand sich im obersten Stockwerk eines heruntergekommenen Hauses in einer Seitenstraße der Brick Lane. Im Erdgeschoss betrieb ein Bengali ein Reisebüro, und einige der Männer, die für ihn arbeiteten, verkauften gefälschte Pässe und Arbeitserlaubnisse.
    East London hatte sich von Anfang an außerhalb der Stadtmauer befunden, bestens geeignet für kriminelle Aktivitäten aller Art. Jahrhundertelang war es einer der schlimmsten Slums weltweit gewesen, der Ort, an dem Jack the Ripper sein Unwesen trieb. Inzwischen ließen sich amerikanische Touristen abends auf den Spuren des Rippers herumführen, aus der Old Truman Brewery war ein Straßenlokal geworden, und mitten im Viertel ragten die gläsernen Türme des Bürokomplexes am Bishop’s Gate empor.
    Das ehemalige Labyrinth aus finsteren Gassen war neuerdings voller Kunstgalerien und schicker Restaurants, aber wenn man sich auskannte, war es immer noch möglich, ein reiches Sortiment an Dingen zu erwerben, die einem halfen, sich der Kontrolle durch das System zu entziehen. Jedes Wochenende traf man am oberen Ende der Brick Lane, etwa auf Höhe der Chesire Street, eine Vielzahl von Straßenhändlern an. Sie boten

Weitere Kostenlose Bücher