Traveler - Roman
der Hölle landest, Deek?«
»Das wird nich’ passieren, Bruder. Ich komm nach oben, dahin, wo’s schön is’.«
»Aber was ist, wenn du jemanden töten musstest?«
»Hängt davon ab, wen. Wenn’s ein schlimmer Sünder war, hab ich der Menschheit ’nen Gefallen getan. Müll gehört in die Mülltonne. Verstehst, was ich meine, Bruder?«
Gabriel hatte seine Honda und ein paar Bücher mit hinauf
in den dritten Stock genommen. Er beschäftigte sich stundenlang damit, das Motorrad auseinander zu bauen, die Einzelteile zu säubern und sie wieder zusammenzusetzen. Wenn er dazu keine Lust mehr hatte, las er alte Zeitschriften oder eine Taschenbuchausgabe der englischen Übersetzung der Geschichte vom Prinzen Genji .
Gabriel vermisste das befreiende Gefühl, das ihn immer überkam, wenn er schnell Motorrad fuhr oder aus einem Flugzeug sprang. Nun aber war er in der Fabrik eingesperrt. Er träumte jede Nacht von Feuer. Er war in einem alten Haus und sah zu, wie ein Schaukelstuhl Opfer lodernder gelber Flammen wurde. Atme tief durch. Mach die Augen auf. Michael lag einen Meter entfernt schnarchend in der Dunkelheit, während draußen jemand eine Mülltonne in einen Müllwagen leerte.
Tagsüber lief Michael im dritten Stock auf und ab und telefonierte mit seinem Handy. Er bemühte sich, trotz allem den Kauf des Bürogebäudes am Wilshire Boulevard abzuwickeln, hatte aber Schwierigkeiten, der Bank sein plötzliches Verschwinden zu erklären. Er bat um einen Zeitaufschub, doch das Projekt war kurz vor dem Scheitern.
»Lass es gut sein«, sagte Gabriel. »Du wirst ein anderes Gebäude finden.«
»Das kann Jahre dauern.«
»Wie wär’s, wenn wir in eine andere Stadt ziehen und ein anderes Leben beginnen würden?«
»Das hier ist mein Leben.« Michael setzte sich auf eine Kiste, zog ein Taschentuch heraus und versuchte, einen Schmierfleck auf seiner rechten Schuhspitze zu entfernen. »Ich habe hart dafür gearbeitet, Gabe. Und jetzt kommt es mir vor, als wäre alles für die Katz.«
»Wir haben bisher jedes Mal überlebt.«
Michael schüttelte den Kopf. Er wirkte wie ein Boxer, der gerade einen Meisterschaftskampf verloren hatte. »Ich wollte
uns beschützen, Gabe. Unsere Eltern haben das nicht getan. Sie haben lediglich versucht, sich zu verstecken. Mit Geld kann man Schutz kaufen. Es ist eine Mauer zwischen dir und der übrigen Welt.«
VIERZEHN
D as Flugzeug überquerte die USA Richtung Westen und jagte dabei der Dunkelheit hinterher. Als die Stewardess das Kabinenlicht einschaltete, schob Maya das kleine Plastikrollo nach oben und spähte hinaus. Ein heller Streifen Sonnenlicht im Osten erleuchtete die Wüste unter ihr. Sie befanden sich gerade über Nevada oder Arizona, genau wusste Maya es nicht. Eine Kleinstadt war mit einigen Lichtpunkten getüpfelt. In der Ferne schlängelte sich ein Fluss als dunkle Linie durch die Landschaft.
Sie lehnte sowohl das Frühstück als auch den kostenlosen Champagner ab, nahm aber das Angebot eines warmen Scones mit Erdbeeren und Rahm an. Maya erinnerte sich noch gut daran, dass ihre Mutter oft Scones für den Fünf-Uhr-Tee gebacken hatte. Nur an diesen Nachmittagen, an denen sie an dem kleinen Tisch saß und ein Comicheft las, während ihre Mutter geschäftig in der Küche hantierte, hatte sie sich wie ein normales Kind gefühlt. Schwarzer Tee mit viel Sahne und Zucker. Fischstäbchen. Reispudding. Rührkuchen.
Eine Stunde vor der Landung ging Maya auf die Toilette. Nachdem sie die Tür verriegelt hatte, klappte sie den Pass auf, den sie für die Reise benutzte, klebte ihn an den Spiegel und verglich das Foto mit ihrem gegenwärtigen Aussehen. Mayas Augen sahen nun durch die speziellen Kontaklinsen braun aus. Dummerweise war das Flugzeug in Heathrow mit drei Stunden Verspätung gestartet, deshalb ließ die Wirkung der chemischen Substanzen, die sie sich injiziert hatte, bereits nach.
Sie holte eine Spritze und eine Ampulle mit verdünnten Steroiden
aus der Handtasche, um sich eine weitere Dosis zu verabreichen. Die Ampulle enthielt laut Aufschrift Insulin, und Maya hatte ein gefälschtes ärztliches Attest bei sich, das ihr bescheinigte, Diabetikerin zu sein. Den Blick auf das Spiegelbild ihres Gesichts gerichtet, stach sie die Nadel tief in ihren Wangenmuskel und injizierte den halben Inhalt der Spritze.
Als sie mit den Steroiden fertig war, ließ sie Wasser ins Waschbecken laufen, nahm ein Reagenzglas aus der Handtasche und schüttete einen Fingerschild in das kalte
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