Traveler - Roman
stiegen die Treppe hinauf. Als sie im ersten Stock angekommen waren, holte Loutka einen Stimmenrekorder hervor.
»Stimmenmuster bitte«, sagte eine Computerstimme.
Loutka schaltete den Rekorder ein und spielte die Aufnahme ab, die am Nachmittag im Taxi gemacht worden war. »Los, machen Sie schon die Tür auf«, ertönte Mayas Stimme. »Los, machen Sie –«
Das elektrisch gesteuerte Türschloss klickte, und Boone stürmte voran. Er sah sich dem tätowierten Russen gegenüber, der ein Geschirrtuch in der Hand hielt und sehr überrascht wirkte. Boone hob seine Pistole und schoss sofort. Die Neunmillimeterkugel traf die Brust des Russen mit der Wucht einer riesigen Faust, und er taumelte nach hinten.
Der Ungar, der offenbar auf eine Prämie für die nächste Leiche aus war, rannte um die Trennwand herum. Boone hörte den massigen Mann schreien. Er lief ihm hinterher, gefolgt von Loutka und dem Serben. Sie kamen in die Küche und sahen, dass der Ungar mit dem Gesicht nach unten auf Thorns Schoß lag, die Beine auf dem Boden, die Schulter zwischen die Armlehnen des Rollstuhls gequetscht. Thorn versuchte, den Ungarn wegzuschieben und gleichzeitig sein Schwert zu zücken.
»Greift ihn euch«, rief Boone. »Na los! Macht schon!«
Der Serbe und Loutka packten Thorns Arme und hielten sie mit aller Gewalt fest. Als Boone den Ungarn vom Rollstuhl zerrte, entdeckte er den aus dem Hals des Mannes ragenden Griff eines Wurfmessers. Thorn hatte ihn mit dem Messer getötet, aber zu seinem Unglück war der Mann nach vorn gefallen und auf dem Rollstuhl gelandet.
»Vorsichtig. Bringt ihn hierher. Passt auf, dass ihr kein Blut auf eure Schuhe kriegt.« Er holte zwei Kunststofffesseln aus der Tasche und band damit erst Thorns Hände und dann seine Füße zusammen. Anschließend trat er einen Schritt zurück
und musterte den gelähmten Harlequin. Thorn war besiegt, aber er wirkte so stolz und arrogant wie eh und je.
»Freut mich, Sie endlich persönlich kennen zu lernen, Thorn. Ich heiße Nathan Boone. Beinahe hätte ich Sie schon vor zwei Jahren in Pakistan erledigt. Sie sind damals sehr schnell bewusstlos geworden, stimmt’s?«
»Ich rede nicht mit Tabula-Söldnern«, erwiderte Thorn ruhig. Boone kannte die Stimme des Harlequins von mitgeschnittenen Telefonaten. In Wirklichkeit klang sie allerdings tiefer, bedrohlicher.
Boone sah sich in dem Zimmer um. »Mir gefällt Ihre Wohnung, Thorn. Ehrlich. Schlichte Einrichtung. Geschmackvolle Farben. Kein Krimskrams, sondern Minimalismus.«
»Wenn Sie mich umbringen wollen, dann tun Sie’s. Aber verschwenden Sie meine Zeit nicht mit überflüssigem Gerede.«
Boone machte Loutka und dem Serben ein Zeichen. Die beiden Männer schleppten die Leiche des Ungarn ins Wohnzimmer.
»Der jahrhundertelange Krieg ist vorbei. Es gibt keine Traveler mehr, und die Harlequins sind besiegt. Ich könnte Sie auf der Stelle töten, aber ich brauche Ihre Hilfe, damit ich meine Arbeit zu Ende bringen kann.«
»Ich werde niemanden verraten.«
»Sollten Sie sich kooperativ verhalten, werden wir Maya ein normales Leben führen lassen. Wenn nicht, dann wird sie einen sehr unschönen Tod erleiden. Meine pakistanischen Söldner haben den chinesischen Harlequin zwei Tage lang vergewaltigt, nachdem sie die Frau gefangen genommen hatten. Es gefiel ihnen, dass sie sich bis zum Ende mit aller Kraft gewehrt hat. Ich nehme an, die Frauen in ihren eigenen Dörfern lassen dergleichen einfach über sich ergehen.«
Thorn schwieg, und Boone fragte sich, ob er über das Angebot nachdachte. Liebte er seine Tochter? War ein Harlequin
zu einem solchen Gefühl überhaupt fähig? Thorns Muskeln spannten sich, als er versuchte, die Fessel zu zerreißen. Dann resignierte er und ließ sich zurücksinken.
Boone setzte seinen Kopfhörer auf und sprach in das dazugehörige Mikrofon: »Mr. Harkness, kommen Sie bitte mit Ihrer Kiste her. Wir haben hier alles unter Kontrolle.«
Loutka und der Serbe hoben Thorn aus dem Rollstuhl, trugen ihn ins Schlafzimmer und ließen ihn dort auf den Boden fallen. Ein paar Minuten später wuchtete Harkness eine sperrige Kiste die Treppe empor. Er war ein ältlicher, schweigsamer Engländer. Boone hatte ihn nur ungern in seiner Nähe, denn beim Anblick seiner gelblichen Zähne und seines bleichen Teints musste er immer an Tod und Verwesung denken.
»Ich weiß, wovon jeder Harlequin träumt. Von einem stolzen Tod. So heißt das doch, oder? Ein solcher Tod ließe sich arrangieren – ich könnte
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