Treibgut - 11
Zor ihm fast ein Bruder gewesen. »Wie geht es ihm?« drängte er. »Was treibt er, was hat er erlebt in all den Jahren?« Dann, nach einer kleinen Pause: »Was will er? Gold? Sind es die Oreales, wegen denen er sich plötzlich an seine alten Freunde erinnert?«
»Du bist garstig«, antwortete seine Frau, ohne von dem Schreiben aufzusehen. »Es geht ihm wohl ganz gut. Er ist mit dem Stab des Marschall-Gubernators du Metuant nach Port Corrad gelangt und scheint dort inzwischen recht große Ländereien zu besitzen. In Port Corrad, stell dir das vor! Schatz, wo liegt Port Corrad?«
Marno dachte einen Augenblick lang nach: »Ich meine, irgendwo bei Selem, zumindest nicht allzuweit weg davon!«
Imelde schaute von dem Brief hoch: »Selem, meine Güte!« Nach allem, was sie von Selem wußte, paarte sich dort die Hälfte der Bewohner mit den Echsenmenschen aus den Sümpfen, während die andere Hälfte schlichtweg verrückt war. Bei Boron, Selem! Sie schüttelte sich in einem angenehmen Schauer des Entsetzens. Da konnte nicht viel dazu gehören, zahllose Rechtmeilen sein eigen zu nennen! Vor ihrem geistigen Auge sah sie den bemitleidenswerten Zor auf der Veranda seines Pfahlbaus sitzen und über endlose Weiten Sumpflands stieren, während ein schuppenhäutiger Diener oder Sklave unter vielen Verbeugungen näher trat, ein Tablett mit einer Tasse Tee in den Händen, und mit gespaltener Zunge zischelte: »H’rr, noch etw’ss Tt’hee?« Sie reichte Marno den Brief: »Bei Selem, der Arme, ist es nicht schrecklich?«
Marno las nun seinerseits das Schreiben, wiederholte dabei einige Sätze, die er gelesen hatte, laut und schloß dann: »Ich glaube, du hast falsche Vorstellungen, Liebste. Port Corrad ist schließlich nicht Selem. Und selbst wenn … Oderin du Metuant hätte sich nie dorthin schicken lassen, wenn es dort nichts zu holen gäbe.« Er blickte auf Nestorio: »Was ist, warum bist du noch da?«
»Verzeih, Herr, doch der Bote brachte noch mehr«, erklärte Nestorio.
»Ich weiß«, antwortete sein Herr etwas ungeduldig, »in dem Brief ist die Rede von einem Geschenk. Hast du es nicht unten abgestellt?«
»Es ist kein Gegenstand, Herr.«
»Was dann?«
Statt einer Antwort beugte sich der Bonze über die Öffnung der Luke: »Komm herauf!«
Imelde zog erstaunt die Brauen hoch. Es lebte? Ein Tier? Doch es verstand auch, also konnte es wohl kaum ein Tier sein. Also mußte Zor … Er hatte ihnen doch nicht am Ende eines dieser gräßlichen Echsenwesen geschickt? Nein, nicht Zor, so skurril war sein Humor nicht – andererseits, die Jahre mochten vieles bewegt haben.
Doch statt einer schuppigen Gestalt mit gezacktem Kamm auf dem Haupt, wie Imelde es trotzdem insgeheim erwartet hatte, kam aus der Luke ein völlig normaler Mensch. Er mochte Mitte Zwanzig sein, Haare und Augen schwarz, das Gesicht verwechselbar, die Haut hellbraun. Nicht überaus kräftig, doch allem Anschein nach in guter Verfassung.
»Wie drollig!« kommentierte Imeldes Gemahl. »Zor hat uns einen Sklaven geschickt. Ich sage dir, er tut das nicht ohne Grund, irgend etwas will er von uns.« Er nahm abermals den Brief in die Hände, überflog ihn ein weiteres Mal, fand jedoch nichts, das auf irgendwelche verborgenen Absichten des Absenders schließen ließ. Er sprach zu dem jungen Mann: »Es wird ja wohl irgendwelche Gründe haben, daß unser Freund dich geschickt hat. Hast du besondere Fähigkeiten?«
Ohne zu zögern, antwortete dieser: »Ich kann lesen und schreiben, Herr, und auch ein wenig rechnen.«
Imelde verdrehte die Augen zum Himmel: »Sonderlich gut erzogen ist er jedenfalls nicht. Selem – meine Güte!«
Nestorio zischte zu dem Schwarzhaarigen: »Diener sagen Herr, Sklaven nicht. Außer mir. Auch hast du nur über mich zu reden, wenn der Herr oder die Herrin dich nicht mit Namen ansprechen.« Dabei betonte er ›Herr‹ und ›Herrin‹ als Zeichen seiner privilegierten Stellung. Der Gemaßregelte antwortete nicht, sondern blickte nur mit unbewegtem Gesicht zurück.
»Wie kann ein Sklave lesen und schreiben lernen?« fragte Imelde weiter.
Der Angesprochene warf seinen neuen Herrschaften unter halbgesenkten Lidern einen verstohlenen Blick zu. Er ließ ihn von dem Mann mit den geölten Löckchen und der herrischen Rabennase zu dessen um einige Jahre jüngeren Frau wandern, deren brauenlose, stark umschminkte Augen eng beieinanderstanden, und dann zurück zum großporigen Gesicht des Bonzen. Ihm antwortete er: »Ich war einst Praiosschüler
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