Treue in Zeiten Der Pest
nicht geöffnet. Joshua hing seine Mütze an einen hölzernen Wandzapfen. Er atmete den Geruch von Holz und Honigwachs ein, der dort in der Luft hing, und vernahm auch den feinen Geruch nach Öl, Leim und Farbe sowie nach gestärkten Bütten und Schwarzpulver, der von der Werkstatt heraufzog.
Joshua öffnete die hölzernen Klappläden der drei glaslosen Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Durch das bretonische Marienglas der drei übrigen Fenster fiel von draußen gedämpftes Licht von Kienspanfackeln in den Raum. Joshua blickte über die Dächer der Stadt bis zu den beiden schlanken, hoch aufragenden Türmen der Kathedrale: Die Wolken hatten sich geöffnet und ließen den blendend weißen Vollmond sehen. In der Ferne, dort, wo die immer breiter werdende Odet mündete, schimmerte das Meer.
Joshua lauschte nach unten. Noch immer drangen gedämpfte Stimmen herauf. Während er ungeduldig wartete, sah er sich in der Wohnung um.
Die Küche mit dem vertäfelten Einbauschrank und die Schlafkammer mit Strohsack, steifem Leinenzeug und Kissen wirkten aufgeräumt. Im Halbdunkel schienen die Gegenstände fast lebendig, als würden sie nur auf ihre Benutzer warten. Die karge Inneneinrichtung der ganz aus Holz gezimmerten Wohnstube mit ihren aufgemalten Bildern gefiel Joshua. Obwohl er zum ersten Mal hier war, schien ihm alles vertraut. Die Möblierung bestand aus einem runden Eichentisch, über dem sich ein hübscher Hängeleuchter befand, drei Faltstühlen mit Armlehnen und einem Sitz aus grünem Samt, einer abgetragenen Truhe mit Eisenbändern, einem Waschkästchen auf vier dünnen Beinen und einem schmucklosen, zweigeschossigen Kastenschrank. An einem Fenster stand ein Lesepult.
In einem Ofen mit grün lasierten Reliefkacheln, um den die Bank mit umlegbarer Lehne lief, war eine Reihe Schlagholz aufgeschichtet. Joshua setzte sich auf die Bank und wartete. Hier also war das Heim von Angélique und ihrer Familie. Konnte man in dieser gepflegten Umgebung tatsächlich krank werden? Joshua sah, dass auf die Bohlenbalken zweier Wände Naturszenen gemalt waren – Vögel und allerlei Phantasieblumen, eine Paradiesszene in leuchtenden Farben.
Nach einer Weile überlegte er, wie es wohl in der Werkstatt aussehen mochte. Er hatte einmal den Platz der Buchmaler in Toledo gesehen und sich nur schwer davon verabschieden können. Bislang hatte es solch prachtvolle Werkstätten nur in den Klöstern gegeben, mittlerweile jedoch erblühten sie in vielen reichen Städten des Südens, und auch hier in der Bretagne wurden immer mehr davon eröffnet.
Er stand auf und ging hinaus. Im Flur war es dunkel und stickig. Er stieg auf ausgetretenen Stiegen in die Werkstatt hinab, die bis auf den Raum, in dem Angélique jetzt lag, das gesamte erste Stockwerk einnahm.
Auch hier schien es Joshua, als ob die gesamte Einrichtung auf die Rückkehr ihrer Besitzer wartete. Es roch wunderbar. Aus dem Nebenraum drangen leise Stimmen zu ihm herüber, und er überlegte, ob er sich nicht doch bemerkbar machen sollte. Vielleicht konnte man seine Hilfe gebrauchen. Aber die Werkstatt zog ihn unweigerlich an, und schnell warf er noch einen Blick hinein.
Er nahm ein Buch aus dem Regal, das vor kurzem frisch ausgemalt worden sein musste. Die Farbe roch noch. Es war ein Liebesbrevier, das ein Handelsherr für seine jüngste Tochter in Auftrag gegeben hatte. Seit seinen Tagen in Toledo wusste Joshua, dass Handelsherren solche Aufträge oft vergaben, um die Künste und vor allem die Künstler einer bestimmten Stadt zu fördern.
Joshua blätterte in dem handgeschriebenen Buch und bestaunte die wunderbaren Miniaturen. Szenen des Alltags, der Frömmigkeit, der Lustbarkeit. Gerahmt von Arkanthusblättern und Blumen auf Goldgrund. Wer auch immer dieses Buch ausgemalt hatte, war ein Meister!
Joshua legte es ins Regal zurück. Er seufzte auf. Jetzt war keine Zeit für Schönheit und Kunst. In diesem Haus bahnte sich etwas Schlimmes an. Es war deutlich zu spüren.
Er trat auf den dunklen, kühlen Flur des Hauses. Im gleichen Moment ging nebenan eine Tür auf, und Henris Stimme rief:
»Joshua? Bist du hier? Der Hausbesorger sagt…«
»Hier bin ich, Henri! Ich bin gerade gekommen.«
»Ist der Stadtarzt bei dir?«
»Nein, er hat keine Zeit für Hausbesuche. Aber du hast den Magister mitgebracht, wie ich hörte?«
»Ja, er hat sich sofort bereit erklärt, mitzukommen. Ich habe ihm meinen Verdacht noch nicht genannt, er wird sich sein eigenes Bild machen.«
Als
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