Treuepunkte
überhaupt kein Kind in den letzten Stunden in der Notaufnahme gewesen war. Der Notarzt wollte dann in der Psychiatrie anrufen, um uns einen adäquaten Gesprächspartner zu besorgen. So hat er sich ausgedrückt. Einen adäquaten Gesprächspartner. Für den Langner und mich. Einen Psychiater. Einen Irrenarzt. Es hat bestimmt zehn Minuten gedauert, bis wir das abgebogen hatten. Daraufhin bin ich mit dem Langner in die Uniklinik, weil ich natürlich dachte, ich wäre in der falschen Klinik gewesen. Wir sind gerast und ich habe den ganzen Weg über versucht, dich zu erreichen, aber bei uns war ständig besetzt.« Mir schwant so einiges. Meine Dauertelefonate mit der Quizshowmoderatorin, vielmehr der Bandansage. Christoph macht weiter: »In der Uniklinik
wieder kein Kind kurz vorm Beinabnehmen. Um uns zu beruhigen, haben sie dem Langner und mir das einzige Kind vorgeführt, das überhaupt infrage hätte kommen können – ein pickeliger Teenager mit einem Vollrausch, der bei unserm Anblick direkt losgekotzt hat. Ekelhaft. Und keine Spur von meinen Kindern. Ich habe dann meine Eltern angerufen, weil ich dachte, vielleicht wissen die was. Die waren total aus dem Häuschen, hatten aber keine Ahnung. Meine Mutter hätte fast einen Infarkt bekommen.« Er räuspert sich und stöhnt: »Da habe ich dann so langsam begriffen, dass das wohl ein Scherz sein sollte. Kein besonders gelungener übrigens. So was hätte ich dir nicht zugetraut. Andrea, das war der peinlichste Abend meines Lebens. Wie konntest du so was tun? Findest du das witzig? Was meinst du, was der Langner jetzt denkt? Wie der mich angeguckt hat.«
»Na ja«, beginne ich meine Verteidigungsrede, »also, du bist nicht ans Telefon gegangen und es war sehr spät. Und dass der Langner dabei war, wusste ich nicht.« Ich zögere einen Moment. Einen Moment zu lange. »Na und?«, schreit Christoph, »du wusstest doch, dass ich arbeite. Da habe ich mein Handy immer aus. Wenn ich arbeite, telefoniere ich nicht. Hast du das immer noch nicht begriffen! Wie blöd kann man denn sein? Du eifersüchtige Ziege!«
Jetzt langt es. Ich werde mich scheiden lassen. Oder etwas in der Richtung. Aber viel mehr Drohungsspielraum bleibt einem als Ehefrau ja nicht. Was fällt dem Typen eigentlich ein? Schließlich wird man doch als verheiratete Frau gegen Mitternacht mal nachfragen dürfen, wo der Herr Gemahl so steckt. Wie kommt der dazu,
mich eifersüchtige Ziege zu nennen? Arroganter Blödian. Genau das sage ich auch: »Arroganter Blödian.« »Du solltest eine Therapie machen, so was muss behandelt werden. Du brauchst Hilfe. Das ist ja wohl nicht mehr normal. Das meint die Michelle übrigens auch.« Dieser Halbsatz ist jetzt das berühmte Tüpfelchen auf dem i. Das meint die Michelle auch! Ich denke, die war gar nicht mehr mit in der Klinik? Kann die neben all ihren anderen Fähigkeiten auch noch hellsehen? Oder hat er sie direkt angerufen, um zu erzählen, was seine Frau für eine Irre ist?
Ich springe von der Couch und stürme in Richtung Treppe. Unser Schlafzimmer liegt im Obergeschoss. Leider gibt’s auf dem Weg keine Tür, die ich so richtig zuknallen kann. Schade. Auf der Treppe drehe ich mich nochmal um und schreie theatralisch: »Deine Michelle, die kann mich mal. Die kann mich so dermaßen mal.« Das war sicherlich nicht das Verhalten, welches Beziehungsratgeber in solchen Situationen empfehlen würden, aber sei’s drum. Mit wahrer Größe und Nonchalance hat mein Auftreten wahrscheinlich auch wenig zu tun. Egal. Mir doch wurscht. »Von der Michelle könntest du dir die eine oder andere Scheibe abschneiden«, brüllt Christoph zurück und ich hasse beide. Michelle und meinen Mann. »Dann geh doch zu deiner Michelle«, kreische ich, und als er antwortet: »Gute Idee«, bin ich wie versteinert. Wenn er jetzt geht, dann … Ja, was dann? Renne ich hinterher? Auf keinen Fall. Soll er doch. »Geh doch«, sage ich in sehr bösem Tonfall und starre ihn vom oberen Treppenabsatz aus an. »Okay«, antwortet Christoph, »ganz wie du willst. Ruf an, wenn du wieder bei Sinnen bist.«
Das glaube ich jetzt nicht! Der geht tatsächlich und tut glatt noch so, als wäre das alles meine Idee gewesen. Ich meine, man kann doch so einen kleinen Satz wie, »Dann geh doch zu deiner Michelle«, nicht wirklich ernst nehmen. Er anscheinend schon, denn er nimmt seine Jacke, seine Aktentasche, die schöne cognacfarbene, die er von mir bekommen hat (ein sauteures und wirklich schickes Teil) und läuft
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