Treuepunkte
mein Mann und schüttelt mich schon wieder, »Geisteskrank wäre ja sogar noch eine Entschuldigung für dein total hysterisches Verhalten.«
Hysterie finde ich fast schlimmer als Geisteskrankheit. Für das eine kann man immerhin nichts. Hysterisch ist ein Lieblingsadjektiv der Männer. Immer wenn ihnen gar nichts mehr einfällt, nennen sie einen hysterisch. »Lass mich erst mal los, und unter uns – wer führt sich denn hier gerade absolut hysterisch auf?«, kontere ich, wie ich finde, extrem geschickt. »Andrea, es langt. Du bist heute wirklich zu weit gegangen.« Er wird auf einmal relativ ruhig und seine Augen sehen aus wie kleine Schlitze, aus denen böse Blitze rausschießen. Richtiggehend unheimlich.
Jetzt werde ich pampig: »Du kommst mitten in der Nacht von einer geschäftlichen Besprechung und schreist mich an? Verkehrte Welt, würde ich sagen. Da meldet sich wohl dein schlechtes Gewissen.« »Meine Liebe, jetzt rede ich«, zischt Christoph wie eine miese Schlange Sekunden vor dem finalen Angriff. »Ich werde dir jetzt mal erzählen, wie ich den Abend verbracht habe. Und dann bist du dran, obwohl ich mir schon vorstellen kann, wie dein Abend so verlaufen ist«, sagt er und schaut mit angewidertem Blick durchs Zimmer, auf den laufenden Fernseher, die leeren Flaschen und den vollgemüllten Couchtisch. Kriege ich jetzt etwa einen Rüffel, weil ich mich erdreistet habe, ein, zwei Fläschchen Wein zu trinken und dann, ohne aufzuräumen einzuschlafen? »Bitte sehr, wenn es dich stört, kannst du es ja wegräumen«, sage ich und bin schon jetzt zutiefst beleidigt und dazu noch stinksauer. »Es geht nicht um den Schweinestall hier«, rümpft Christoph die Nase und hebt demonstrativ eine der leeren Weinflaschen hoch, »darüber reden wir später.« Oh, die Alkoholkontrollpolizei ist da! »Ich bin
schon ziemlich groß und kann trinken, was ich will«, fahre ich ihn an.
»Also, Andrea, jetzt hör endlich zu. Ich war mit Michelle und dem Langner im Büro. Dann haben wir uns Pizza kommen lassen, weil es doch mehr Arbeit als gedacht war, diese Mingner-Sache durchzusprechen. Dazu gab’s bei uns Mineralwasser, wir haben uns nicht zugeschüttet.« Ich stutze. Einmal wegen der Zugeschüttet-Beleidigung, nur weil ich mal ein paar Gläschen Wein getrunken habe, und dann wieso Langner? Hä? Ich dachte, Christoph und Belle Kotzkuh hätten zusammen den Abend verbracht. »Der Langner war dabei? Wieso hast du das nicht gesagt«, pflaume ich ihn an. Das hätte die Sachlage ja komplett geändert, wenn ich das gewusst hätte. »Was spielt denn das für eine Rolle, wenn ich arbeiten muss? Ist doch egal, wer noch dabeisitzt«, bemerkt mein Mann nur trocken. So eine dumme Äußerung kann wirklich nur ein Mann machen. Natürlich spielt es eine Rolle, wer wo dabei ist. Eine entscheidende Rolle. Hätte ich geahnt, dass der Langner das neue Kanzlei-Turteltäubchenpaar Belle Michelle und Christoph geradezu beaufsichtigt hat, wäre mir das Ganze doch piepegal gewesen. »Andrea, jetzt zum Rest des wirklich demütigenden Abends«, nimmt Christoph einen erneuten Anlauf, »wir haben geackert wie die Tiere und uns, statt essen zu gehen, was kommen lassen. Pizza, um genau zu sein.« »Die gute vom Giovanni?«, will ich schnell wissen. »Nee, und das ist, ehrlich gesagt, für die Geschichte auch absolut nicht relevant«, brummelt Christoph. »Hör mir jetzt zu. Als wir kurz nach Mitternacht fertig waren mit dem Plädoyer für die Mingner – eine echt vertrackte Sache übrigens –, habe ich
mein Handy eingeschaltet und deine Nachrichten abgehört. Um es kurz zu machen. Um zwanzig Minuten nach zwölf stand ich in der Notaufnahme. Mit dem Langner, der mich netterweise gefahren hat. Ich war so aufgeregt, dass er meinte: ›In dem Zustand, Herr Kollege, lass ich Sie nicht ans Steuer.‹ Den ganzen Weg ins Krankenhaus war ich fast verrückt vor Sorge. Und dann in der Notaufnahme haben der Langner und ich fast unisono gebrüllt: ›Nicht das Bein abnehmen. Bitte nicht. Warten Sie.‹« Er schnauft laut und deutlich, um dann weiterzumachen: »Wie die uns angeschaut haben in der Notaufnahme. Der Notarzt wollte direkt kleine weiße Jäckchen für uns holen. ›Welches Bein?‹, hat der nur immerzu gefragt. ›Das von meiner Tochter oder meinem Sohn, ich bin mir da nicht sicher‹, habe ich geantwortet. ›Wie, nicht sicher? Welche Tochter, welcher Sohn?‹, hat der Arzt nur verwirrt gefragt. So ging das einige Minuten hin und her, bis klar war, dass
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