Treuepunkte
Richtung Haustür. Spätestens jetzt sollte ich einlenken. Nicht dass der wirklich die Flatter macht. Andererseits – dann soll er doch. Es gibt ja den schlauen Spruch: Fahrende kann man nicht aufhalten, oder so ähnlich. Während ich noch überlege einzulenken, schlägt er die Haustür demonstrativ zu. Ich höre noch den Motor von Christophs ganzem Stolz, seinem BMW , aufheulen und dann ist Ruhe. Der wird nur zweimal um den Block fahren, beruhige ich mich selbst, der will mich nur kleinkriegen, schocken, das meint der niemals ernst.
Ich warte eine halbe Stunde. So groß sind die Blocks hier eigentlich nicht. Ich gehe zur Tür und schaue auf die nächtliche Szenerie. Kein Geräusch weit und breit. Die Reihenhaussiedlung im Tiefschlaf. Nur ich nicht. Eine verstörte Hausfrau nach einem desaströsen Abend. Nach zehn Minuten wird mir kalt und es ist klar: Er ist weg. Aber wohin bloß? Zu seiner Michelle etwa? Ich könnte mich ohrfeigen. Wieso habe ich nur dermaßen die Beherrschung verloren? Kann es sein, dass ich ihn mit meiner Äußerung direkt dorthin getrieben habe, wo er sowieso hin wollte? Bin ich vielleicht wirklich eine eifersüchtige Ziege? Und wenn ja – hab ich womöglich allen Grund dazu? Wenn die Kinder nicht wären, würde ich eben mal bei Michelle vorbeifahren. Nur um zu
gucken, ob sein Auto da irgendwo geparkt ist. Aber ich kann doch schlecht die Kinder mitten in der Nacht allein lassen, oder? Ich meine, an sich haben die beiden einen sehr guten Schlaf. Ich entscheide mich trotzdem gegen den Spionagetrip, nicht zuletzt wegen meines Rotweinkonsums. Stattdessen leere ich noch den kleinen Rest aus der zweiten Flasche und gehe ins Bett. Es nutzt ja nichts, hier rumzusitzen und der Dinge zu harren. Wenn er wiederkommt, werde ich es merken, und wenn nicht, auch.
Werde ich ab morgen allein erziehend sein? Was ist dann mit meinem Job, den ich zwar noch nicht habe, aber so gern hätte? Werden die Kinder psychologische Hilfe brauchen? Was werden meine Eltern zu der Geschichte sagen? Ich könnte heulen. Allerdings mehr aus Wut als aus Verzweiflung. So schnell gibt eine Andrea Schnidt nicht auf, ermahne ich mich.
Das Telefon klingelt. Na also, er besinnt sich und will reumütig zurückkommen. Gut, dass ich nicht angerufen habe. Geduld und Zähigkeit zahlen sich doch aus. Ich stürze aus dem Bett in Richtung Telefon. Ich werde streng, aber doch freundlich sein, und wenn er sich angemessen entschuldigt, werde ich einlenken. Aber es ist nicht Christoph, es sind meine Schwiegereltern. Rudi, mein Schwiegervater ist dran: »Andrea, Herzsche, isch hab uff laut geschaltet, die Inge sitzt nebä mir, sach uns schnell, was macht des Beinsche, wie geht’s de Klaane, is alles in Ordnung, brauchst de Hilfe, mir sin komplett abfahrbereit, du musst nur en Wort sache, mer mache uns schlimme Sorsche«, rattert er los. »Werklisch, Andrea, alles is machbar, isch mein, heut gibt’s so gute Prothese
un so Kinner, die gewöhne sich schnell an so was«, will er mich trösten. Was für ein Mist. Jetzt auch das noch. Meine herzensguten Schwiegereltern sitzen mitten in der Nacht abfahrbereit und klein vor Sorge zu Hause und das nur, weil ich ihren Sohn ein wenig ärgern wollte. »Also«, stammle ich los, »das ist alles irgendwie ein riesiges Missverständnis. Den Kindern geht’s gut. Sie schlafen. Mit allen dazugehörigen Beinen. Ohne Prothesen oder so. Geht schnell ins Bett. Wirklich, alles ist in bester Ordnung.« Rudi stockt: »Ja abä de Christoph hat uns doch aagerufe und – also des versteh isch jetzt net. Was is denn eischentlich passiert? Wem fehlt denn überhaupt des Bein?« Aus dem Hintergrund höre ich Inges besorgte Stimme: »Geht’s den Kinnern aach werklisch gut?« »Ja Inge«, rufe ich in den Hörer, »es geht ihnen bestens.« »Du willst uns jetzt net nur beruhische, mer vertrache die Wahrheit, aach wenn mer alt sin. Du kannst mit uns offe spreche, Andrea, geb mer ma unsern Bub«, bleibt Rudi hartnäckig. Ihren Bub, Christoph, wollen sie sprechen. Das wird ein wenig schwierig werden. Wo ihr Bub ist, wüsste ich auch zu gern. Wenn ich jetzt gestehe, dass zwar die Kinder noch ihre Beine haben, aber sich mein Mann deswegen aus dem Staub gemacht hat, dann werden die zwei verrückt. »Der schläft schon«, schwindle ich schnell, schließlich möchte ich nicht, dass sich die beiden noch mehr Sorgen machen müssen. »Er schläft, genau wie die Kinder und ich bin auch so gut wie im Bett. Ich melde mich morgen bei
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