Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
tagtäglich neue Kinder, bekannte tauchen nicht mehr auf, und das Frischfleisch rotiert.«
»Trotzdem könnte es sich doch herumsprechen …«
»… und die Pädo-Kreise sind in Aufruhr, ja, denn sie fürchten Schlagzeilen. Morde würden das Licht der Öffentlichkeit unweigerlich auf die Szene lenken, die bisher unbehelligt geblieben ist – und es in Zukunft gerne auch dabei belassen möchte.«
»Versuchen Sie uns gerade zu erklären, dass die Männer das unter sich regeln?«
Wolfsbach schenkte sich neuen Kaffee ein, bot auch den beiden Beamten etwas an, doch sowohl Kalkbrenner als auch Muth wehrten die kalte Plörre dankend ab.
»Aber Sie erwarten doch nicht ernsthaft, dass wir die Hände in den Schoß legen und darauf warten, dass sich das Problem von alleine löst?« Kalkbrenner spürte Zorn in sich aufsteigen. »Da draußen läuft immerhin ein Mörder frei herum und hat vielleicht schon ein weiteres Kind … Ach, verflucht!«
Der Hauptkommissar sprang von seinem Platz auf. Sozialarbeiter, Polizisten, Helfer, denen die Hände gebunden waren. Familienväter, Geschäftsmänner, Leute mit Geld und Einfluss, die sich ihrer dreckigen Sache sicher waren. Kinder, die nicht über Missbrauch reden konnten, weil sie ihn nicht einmal als solchen begriffen. Und die Gefahr, niemanden, nicht einmal den Mörder, zur Rechenschaft ziehen zu können: Kalkbrenner hatte genug gehört. Aufgebracht marschierte er zur Bürotür.
Kurz davor blieb er stehen. Muth rempelte gegen seinen Rücken. »Irgendwann sind die Kinder doch kein«, Kalkbrenner scheute sich davor, das Wort noch einmal in den Mund zu nehmen, »Frischfleisch mehr.«
Wolfsbach seufzte und begleitete die Beamten zur Tür. »Sobald die Jungen dreizehn, vierzehn oder fünfzehn sind und sich bei ihnen Bartwuchs und Behaarung entwickeln, wollen die Männer nichts mehr von ihnen wissen. Dann werden sie durch andere, jüngere Kinder ersetzt.«
»Und was passiert mit den älteren?«
»Sie werden in die offene Szene gespuckt.«
»Sie landen also auf dem Strich?«
»Wo sonst? Sie sind ja bereits entsprechend sozialisiert worden. Die Männer auf dem Strich suchen jedoch keine Gespielen mehr für Tage, Wochen oder Monate, sondern den einfachen, schnellen Sex. Dementsprechend gibt es keine Liebe, keine Nähe mehr, sondern nur noch Geld. Bares Geld. Wenn sie den Arsch hinhalten, bekommen die Jungen, was sie zum Überleben brauchen oder was sie sich wünschen: Klamotten, Handys, Spiele, Zigaretten. Drogen. Entscheidend aber ist, dass die Jungen zu diesem Zeitpunkt längst gelernt haben, mit dem Mechanismus
Geld gegen Sex
zu leben. Entweder sie verdrängen den Akt weiterhin als etwas Belangloses, das zu ihrem Alltag eben dazugehört, oder sie haben im besten Fall selbst Freude daran gefunden.«
Kalkbrenner verspürte einen Anflug von sarkastischem Lachen, das sich als zorniges Husten Luft machte. »Freude?«
»Nun, durch die Stimulation des Anus und der Prostata kommen nicht wenige Jungen zu einer Erektion oder einem Samenerguss. Für viele von ihnen ist der Sex mit einem pädosexuellen Mann die erste sexuelle Erfahrung überhaupt.« Wolfsbach drückte die schwere Eisentür auf. Der Wind trieb Schnee vom Bürgersteig in den Flur. »Nach dem ersten Mal, spätestens aber, sobald sie mit ihrer Situation zu leben gelernt haben, müssen sie sich mit der Frage nach ihrer sexuellen Definition auseinandersetzen. Das kann zu Problemen führen: Sind sie schwul? Wollen sie das wirklich?«
»Aber haben die Jungen denn überhaupt noch eine Wahl?« Kalkbrenner machte einen Schritt hinaus in die Kälte. »Ist nicht schon längst für sie entschieden worden?«
»Die Kinder können sich nicht …«
Das Läuten von Kalkbrenners Handy brachte Wolfsbach zum Verstummen. Es war Rita. »Paul? Ich habe hier ein Gespräch für dich. Ich glaube, es ist wichtig. Warte, ich verbinde.«
Dem Knacken in der Leitung folgte Stille. Dann röhrte ein Automotor. »Sackowitz hier!«
»Sie schon wieder?«, fragte Kalkbrenner erstaunt. »Sie haben mir gerade noch gefehlt.«
»Nicht ganz richtig, Herr Kalkbrenner: Ich habe etwas, das Ihnen fehlt.«
»Hören Sie zu, Herr Sackowitz, ich habe keine Zeit für Ihre Spielchen, also, was ist los?«
»Wollen Sie nicht wissen, wer an diesen dreckigen Sachen beteiligt ist?«
»Wer?«
»Treffen wir uns doch einfach bei ihm«, schlug der Journalist vor.
»Wir?«
»Natürlich, Herr Kalkbrenner, Sie und ich.« Sackowitz gab ein Geräusch von sich, das entfernt
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