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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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würde er Handschuhe benötigen. Trotzdem wischte er in diesen Sekunden die Scheibe trocken, als wäre es die wichtigste Aufgabe der Welt. Er kassierte eine Münze dafür, auf die nur eine Eins geprägt war.
    Zurück auf dem Gehsteig tätschelte Aidan ihm anerkennend die Schulter. »Das ist 1 Euro. Sehr gut.«
    »1 Euro?«
    »Das sind 100 Cent.«
    »Also mehr, als du mit dreimal Putzen bekommen hast?«
    »Richtig.«
    Lächelnd drückte Tabori ihm das Geldstück in die Hand. »Für dich. Fürs Essen. Und für den Wischer.«
    »Danke, aber das wird nicht reichen.«
    »Dann arbeite ich eben mehr.«
    Von nun an nahmen sie sich abwechselnd die Autoscheiben vor. Obwohl sie sich erst seit wenigen Stunden kannten, waren sie bald ein eingespieltes Team. Plötzlich schubste Aidan Tabori unsanft in einen Hauseingang. Tabori rieb sich den schmerzenden Arm: »He, was soll das?«
    »Polizei!«
    Tabori blickte sich um. Als er in der Autoschlange vor der Ampel ein Polizeifahrzeug entdeckte, bekam er ein mulmiges Gefühl. Dann fuhr das grün-weiße Auto an, und sie nahmen ihre Arbeit an der Kreuzung wieder auf. In den nächsten anderthalb Stunden wurden sie nicht mehr unterbrochen. Während einer kurzen Pause zwischen den Rotphasen schwenkte Aidan die Flasche mit dem Wasser vor Taboris Augen umher: »Weißt du, was das ist?«
    »Një shishe.«
    »Nein. Das ist
eine Flasche

    »Flasche«
, wiederholte Tabori auf Deutsch.
    »Und was ist da drin?«
    »Ujë.«
    »Nein, das ist
Wasser.
Und was machen wir damit?«
    »Pastrim.«
    »Das heißt:
Putzen.
«
    »Man kann es auch
du ujë

    »Richtig. Man kann es
trinken.
Und manche Leute sollten es auch«, er schnupperte übertrieben an Tabori, »zum
Waschen
benutzen
.
«
    Bestürzt sah Tabori seinen neuen Freund an. Seit er in Gracen aufgebrochen war, hatte er sich nicht mehr waschen können. »Stinke ich so stark?«
    »Nein, das war nur ein
Scherz

    »Was war das?«
    »Ein
shaka

    Zwischenzeitlich kam der Verkehr zum Stehen, Aidan war an der Reihe, putzte und setzte danach die Lehrstunde fort. Er erklärte Tabori das
Fahrrad
,
das
Auto
,
den
Bus
,
das
Haus
,
das
Geschäft
,
den
Supermarkt
und wie man danach fragte. »Wo ist der Bahnhof?«
    »Wo ist der Bahnhof?«, echote Tabori. In Gedanken schwor er sich, diese Frage nie wieder zu vergessen.
    Dann waren die
Frau
, der
Mann
, die
Eltern
,
die
Kinder
, die
Schwester
,
der
Bruder
und schließlich sogar der
Cousin
an der Reihe, anschließend
Kleidung
,
Jacke
,
Hose
,
Socken
,
Schuhe
sowie
Handschuhe
und
Regenschirm.
Bei der Auswahl der Worte hatte sich Aidan an ihrer aktuellen Situation orientiert: Ihre Kleidung war triefend nass, und die Finger schmerzten vor Kälte. Ihre Jackentaschen beulten sich allerdings von all den Münzen, die sie eingenommen hatten. Allein das Klimpern zu hören war die Anstrengung wert.
    »Was haben wir vorhin gegessen?«, fragte Aidan.
    »Cola!«
    »Nein, Cola ist ein
Getränk.
«
    »Und
Hamburger

    »Genau. Hamburger. Was noch?«
    Tabori dachte nach, aber es wollte ihm nicht mehr einfallen.
    »Cheeseburger«
, half Aidan.
    »Genau, ein Cheeseburger. Mit Pommes!«
    Wissbegierig lernte Tabori in kurzer Zeit eine Vielzahl deutscher Wörter. Einige konnte er sich auf Anhieb merken, weil sie lustig klangen oder ihn an etwas erinnerten, andere musste er ein paarmal wiederholen.
    Irgendwann formten sich als graue Vorboten von Schnee dicke Wolken am Himmel. Die Autofahrer schalteten die Scheinwerfer ein, Laternen erhellten die Straßen, und in den Geschäften setzte buntes Flackern und Flirren ein. »Wir gehen!«, beschloss Aidan.
    »Wohin?«
    »Geld zählen. Und dann essen.«
    Erst jetzt bemerkte Tabori, wie hungrig er war. Den ganzen Tag über hatte er gearbeitet, gelernt und vor Begeisterung an nichts anderes gedacht – nur ein einziges Mal an seine Mutter und daran, wie stolz sie auf ihn sein würde. Heute hatte er sich sein Essen redlich verdient.

29
    Alle Aufmerksamkeit der Anwesenden richtete sich auf Sera Muth. Im stickigen Konferenzraum erklärte die Kriminalkommissarin ihren Kollegen: »Marten Peglar ist zwar gestern nach Amsterdam geflogen, hat aber nicht in das gebuchte Hotel eingecheckt. Auch den Flieger zurück nach Berlin hat er heute Morgen nicht genommen. Kurzum: Er ist verschwunden.«
    Dr. Salm presste seine Fingerknöchel gegen die juckenden Augen. »Gibt es dafür einen Grund?«
    »Wir haben einen Großteil der Hotelgäste des
Adler
befragt. Das hat eine Weile gedauert

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