Triestiner Morgen
sich Enrico nichts überlegt, keinen bestimmten Plan für das Wiedersehen mit seinem Freund gemacht. Er sitzt einfach nur da und beobachtet die kleine, ganz in Schwarz gekleidete Frau, die mit gekrümmtem Rücken am Abwaschbecken steht.
Nach einer Weile kommt sie aus dem Haus. Die Einkaufstasche am Arm, schlurft sie den steilen Berg hinauf. Für den Weg ins Dorf braucht sie mindestens eine halbe Stunde, eine weitere halbe Stunde zum Einkaufen und Plaudern, und dann der Rückweg, bepackt mit der schweren Tasche. Er wird also knapp eineinhalb Stunden Zeit zur Verfügung haben. Genug Zeit, um einem Freund beim Sterben zuzusehen.
Sein Anwalt hat ihn, bei seinem letzten Besuch im Gefängnis, von Livios bevorstehendem Tod unterrichtet.
Die Eingangstür ist offen. Lächelnd betritt Enrico den großen Vorraum. Die alten Gemälde an den Wänden würdigt er keines Blickes. Livios Vorfahren interessieren ihn nicht.
Er überlegt, in welchem Zimmer der Freund wohl dahinsiechen mag, und begibt sich dann kurz entschlossen hinauf in den ersten Stock.
Auch das Stiegenhaus quillt vor Erinnerungen über: Souvenirs aus aller Welt und mehr oder minder wertvolle Antiquitäten, ein verblaßter, rötlicher Perserteppich – ein Wunder, daß die alte Hexe noch nicht darüber gestolpert ist.
Die erste Tür ist verschlossen. Mamas Schlafzimmer? Enrico probiert es beim nächsten Zimmer.
Dunkle Tapeten, ein großer, brauner Schrank, ein französisches Bett, ein gespenstisch aussehendes, kalkweißes Gesicht und dünne, weiße Ärmchen, die sich in eine dicke Daunendecke krallen.
» JEDER Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir
,
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele
,
wissend um euch. Wohin sind die Tage Tobiae
,
da der Strahlendsten einer stand an der einfachen
Haustür
,
zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr
furchtbar;
(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah)
.
Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den
Sternen
eines Schrittes nur nieder und herwärts:
hochaufschlagend
erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr?«
Enrico geht zum Bett und flüstert »Ciao, Livio.«
Aus der Nähe sieht das Gesicht nicht weiß, sondern grau aus.
Er streichelt die fahlen Wangen des Freundes und sagt noch einmal, dieses Mal etwas lauter: »Livio?«
Bildet er sich nur ein, schwaches Röcheln zu vernehmen?
Das skelettartige Wesen schlägt die Augen auf. Entsetzen, Angst und Schmerz spiegeln sich in seinem Blick wider.
»Wie geht’s?« – Was für eine blöde Frage. Enrico versucht dem vorwurfsvollen Blick des Kranken auszuweichen.
»Siehst nicht gut aus, mein Freund. Wirst wohl bald die Löffel abgeben.«
Ein leises Stöhnen ist die einzige Reaktion.
»Man könnte fast gläubig werden. Schon als Kind habe ich mir unseren Herrgott immer als einen strafenden und rachsüchtigen Vater vorgestellt, während du damals fest auf deinen Schutzengel vertraut hast. Wo ist der denn jetzt?«
Livio wälzt sich unruhig im Bett hin und her, die Decke rutscht von seiner Schulter.
Enrico deckt ihn wieder zu und fährt mit sanfter Stimme fort: »Gina hat auch an gute Geister geglaubt. Viel hat ihr dieser Glaube nicht genützt. Ich werde nie vergessen, wie sie dagelegen ist in dieser billigen Absteige, auf dem schmutzigen Bett, halbnackt, nur mit dem Strumpfgürtel und einem Strumpf bekleidet, der andere Strumpf um ihren zarten Hals geschlungen, Rücken und Hintern voll blutiger Striemen ... Bißspuren auf ihren Armen und Schenkeln, ihr Engelsgesicht eine Totenmaske, unglaubliches Entsetzen in ihren Augen, blutig geschlagen das linke, violett verfärbt das rechte, ihr Mund rot verschmiert, die heraushängende Zunge und die häßlichen Würgemale auf ihrem Hals ...« Er packt den Freund an den Schultern und rüttelt ihn unsanft. »Hörst du mich? Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!«
Der Kranke rührt sich nicht.
»Hat sie die Madonna um Hilfe angefleht, bevor du ihr die Kehle zugedrückt hast?«
Livio antwortet nicht, er scheint zu schwach zum Sprechen zu sein.
»Hast Schiß vor deiner Frau Mama gehabt. Die Alte hat bestimmt gedroht, dich zu enterben, wenn du Gina vor den Traualtar führst. Meine Liebste war wohl nicht gut genug für eure feine Familie.« Er läßt sich durch das heisere Krächzen seines Freundes nicht beirren. »Natürlich hat sie dich mit dem Kind erpreßt. Aber du hättest das verstehen müssen. Sie wollte nur ein schönes Leben für ihren Balg, einen guten,
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