Triestiner Morgen
sorgfältig die Türklinken und alles andere, was er berührt hat, ab.
Keiner hat ihn gesehen, keiner hat irgend etwas gehört.
Mord ist keine komplizierte Angelegenheit.
»... Mörder sind
leicht einzusehen. Aber dies: den Tod
,
den ganzen Tod, noch vor dem Leben so
sanft zu enthalten und nicht bös zu sein
,
ist unbeschreiblich.«
Auf der Kaimauer sitzen zwei alte Männer und flicken ihre Netze. Sie kehren Enrico die Rücken zu. Trotzdem meidet er die Straße vor dem Haus, klettert über den Zaun des Nachbargrundstücks und schleicht durchs Gebüsch zum Meer hinunter.
Um Livios Mutter nicht über den Weg zu laufen, nimmt er den Umweg rund ums Schloß in Kauf, obwohl es mehr als unwahrscheinlich ist, daß ihn die alte Dame wiedererkennen würde. Bestimmt ist sie inzwischen halbblind, und er hat sich in den letzten zwanzig Jahren ja auch ziemlich verändert.
Auf dem Weg entlang des Meeres begegnet ihm kein Mensch. Enrico setzt sich auf einen Stein, raucht eine letzte Zigarette und schreibt in sein kleines, schwarzes Notizbuch:
»LZ geraucht beim Anblick des ans Meer hingetürmten Schlosses, das wie ein Vorgebirge mit seinen Fenstern in den offenen Meerraum hinaussieht, unmittelbar ins All und in seine generösen, über alle hinausgehenden Schauspiele ...«
Das Meer ist unruhig. Schaumkronen tanzen auf den Wellen, und die Gischt spritzt bis zu den Steinen. Mit dem Meer verbindet sich oft der Gedanke an den Tod. Doch der Tod ist überall. Die tosende, graue Masse jagt ihm keine Angst ein.
Er streckt sich auf den Klippen, nahe dem Abgrund, aus und blickt hinauf zu dem Schloß, wo einst der große Dichter weilte. In seinem Zimmer überwintern heute wahrscheinlich die Surfbretter, denkt Enrico, während er auf die zerschlissenen Wolkenlaken starrt, die sich in den Zinnen des Schlosses verfangen haben. Dumpfer Lärm von der nicht allzu fernen Autobahn schallt, vom Wind vertragen, quer durch die Häuser und hohen Bäume, bis zu ihm hinunter. Das Rattern eines Güterzug übertönt die Brandung und das monotone Motorengeräusch.
Enrico wirft den Zigarettenstummel ins Wasser und klettert über das nasse Geröll hinauf zur Straße.
»Einsam steigt er dahin, in die Berge des Ur-Leids
.
Und nicht einmal sein Schritt klingt aus dem tonlosen Los.«
Die Bushaltestelle befindet sich unter einer weitläufigen Laube, mitten auf dem Dorfplatz. Der kleine Blumenladen hat zu. Auch die Bar, gleich daneben, ist geschlossen, womöglich sperrt sie erst im Frühjahr wieder auf.
Der Bus nach Monfalcone fährt zum Glück auch um diese Jahreszeit jede halbe Stunde. Amüsiert beobachtet er den Fahrer, der sich in den Kurven dreimal bekreuzigt. Scheint eine ziemlich fromme Gegend zu sein.
Enrico übernachtet in einer billigen Absteige für Vertreter und Monteure. Und er schläft zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder in einem ordentlichen Bett.
Am nächsten Morgen nimmt er den ersten Zug nach Hause in sein geliebtes Triest. Wieder verbringt er die Fahrt am offenem Fenster. Nebelschwaden rauben ihm die Sicht aufs Meer. Doch plötzlich ragen die zarten, weißen Türme von Schloß Miramare aus dem grauen Dunst. Und auf einmal umrahmen gelbe und graue Häuser die Geleise. Er ist in Triest.
Livio wäre die beste Partie, obwohl er ein Taugenichts ist, unzuverlässig und seiner schrecklichen Mutter bedingungslos ergeben. Seine Frau Mama würde ein Mädchen wie mich niemals als Schwiegertochter akzeptieren. Als sie uns in ihrem Ehebett erwischte, beschimpfte sie mich als Hure und drohte, es Enrico zu erzählen, wenn ich ihr geliebtes Söhnchen in Zukunft nicht in Frieden lassen würde. Ich machte mich lustig über die hysterische Schreckschraube, aber Livio zog vor seiner Mutter den Schwanz ein. Er erfand die unmöglichsten Ausflüchte, um mich nicht mehr in seine Villa mitnehmen zu müssen. Andererseits flüsterte er mir nach wie vor halbherzige Angebote und kleine Schweinereien ins Ohr. Ich sei für ihn »das Aufregendste«, was er je erlebt hat, »die heißeste Nummer aller Zeiten« und ähnlichen Unsinn. Eigentlich verachte ich die Männer. Ein Wink mit meinen Augen, ein versonnenes Lächeln, und schon liegen sie mir zu Füßen.
Bei der Vorstellung, daß die drei zusammen die Schulbank gedrückt haben, muß ich immer lachen. Ich kann sie mir einfach nicht als kleine, rotzige Schuljungen vorstellen.
Enrico hat sich am besten gehalten. Zwar ist er kein ausgesprochen fescher Mann, aber er ist sehr sportlich und wird bestimmt auch
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