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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Solveig, trinkt Tee und löffelt Suppe und fühlt sich selbst ebenso eine Spur gereinigter.
    Behäbig schaltet sie den Fernseher ein, auf dessen Bildschirm sich Schlagersänger mit Polyesterjacken umtanzen. Diese Dummheit beruhigt. Überflüssiges Wohlstandsgeseier wabert durch den Raum, der Schlagersänger röchelt Romantisches dazu, die Welt ist eine Schmuckdose. Der Tag vergammelt ihr unter der Schädeldecke, aber sich von Minute zu Minute etwas besser als zuvor zu fühlen, hat ja auch was.
    Das Leben ist das Leben ist das Leben, denkt Gott und dann noch: Was hab ich damit zu tun? Viele Leute, auch Ungläubige, schreien, wenn ihnen irgendein Scheiß widerfährt: Oh Gott, und Gott denkt dann immer: Alter, was hab ich damit zu tun, wenn ihr ein Kind überfahrt, einen Teller beim Geschirrspülen fallen lasst oder der griechische Ziegenkäse im Kühlschrank wegen Abgelaufenheit stinkt. Nehmt eure Kackleben und schmeißt den Käse raus, fegt die Scherben weg und stellt euch eurer Schuld und räumt auf in euren Herzen und Köpfen. So kann sogar aus dem Menschenmatsch, der hier herumkraucht, noch irgendwas Sinnvolles werden. Fangt an, sauber zu machen. Trennt euch von dem, was zuviel ist, holt euch das, was ihr zu wenig habt, und steht auf und kämpft endlich mal für das, was ihr haben wollt.

Meine Spuren verfolgen mich
    Hat der Junge das doch tatsächlich getan, denkt Ingeborg. Als Roy die Wohnung verlässt, ist sie noch nicht ganz tot, weiß es aber, dass es passieren wird, spürt das unmittelbar bevorstehende Ende und findet es äußerst unglamourös, dass jetzt keine Fanfaren zum Abgesang auf ihr Leben tröten. Nicht mal Trompeten. Nicht mal eine verdammte Blockflöte. Nichts. Sie atmet kaum noch, ihre Augen sind aber geöffnet. Ihr Blut verlässt sie nicht mehr so zügig wie kurz nach dem Eintreffen des Messers in ihren Körper. Ingeborg starrt in ihr Gefängnis, in dem sie solange gelebt hat. Der kleine, gut bürgerliche Knast, dem sie nie entkommen konnte und es auch nicht wollte. Was gibt es denn draußen schon zu erleben? Das Portemonnaie kann geklaut werden. Es besteht die Möglichkeit, überfahren zu werden. Man kann undankbare geistig Behinderte treffen, die einen heim begleiten und einem dann ein Küchenmesser in den Hals rammen. Da macht doch so ein Knast schon Sinn.
    Ihre Wohnung sieht vom Fußboden betrachtet aus wie sie sich den Blickwinkel ihrer ersten Puppe in ihrem Puppenhaus immer vorstellte. Ihre Puppe damals war ein weißer Kieselstein, auf den ihre Mutter ein Gesicht gemalt hatte, und einen Stofffetzen hatte sie auch drum gewickelt. Ingeborg liebte diesen Stein und nannte ihn Johanna. Johanna, der Stein, war fortan ihr Baby gewesen, und so wie sie jetzt auf dem Küchenboden liegend ihre Wohnung sah, so stellte sich Ingeborg die Sichtweise von Johanna vor. Alles ist riesig groß, die Einbauküche, für die Hermann und sie einen Kredit aufgenommen haben, ist endlich mal so groß, dass sie den finanziellen Aufwand von damals zu rechtfertigen scheint.
    Die Bodenfliesen sind kalt, Ingeborg wird auch immer kälter. Sterben ist also ein hochgradig unglamouröser Akt, fällt ihr noch ein, vollkommen spektakelfrei, der ganze Akt. Warum also machen die Leute einen derart gewaltigen Aufstand, wenn also jemand geht? Warum war sie so traurig bei Hermanns Ableben, und warum konnte sie sich auch in der kurzen Zeit, die sie zwischen seinem Tod und ihrem hatte, nicht von ihm loslösen? Er war und ist ihr Mann, obwohl er nur noch ein Haufen Gerümpel ist, Gerümpel, das sie auf dem Westfriedhof verbuddelt haben.
    Weggleiten. Da. Ist. Nichts. Nichts ist da. Wofür ist man denn jetzt jeden scheiß Sonntag in die Kirche gerannt? Für dieses endlos schleichende Nichts? Da muss doch irgendwas sein, wo alle immer hinbeten, muss, muss, muss. Es wird immer kälter. Bis es so kalt wird, dass kein Leben mehr irgendeine Möglichkeit hat.
    Gott macht wieder einen Haken auf seiner Liste. Sein Alltag kotzt ihn an, aber einer muss den Job ja machen. Planlos läuft er herum, der Gott, und denkt sich was. Denkt sich, dass das mit der Jesusnummer schon echt lange her ist und dass er so was noch mal gerne machen würde. Das hat damals auch schon einen großen Aufschrei gegeben. Anschließend hat er sich aber über zweitausend Jahre nicht getraut, die Nummer zu wiederholen, um halt einfach die Gläubigen nicht zu verunsichern, aber jetzt mal ernsthaft, denkt er, was gehen mich diese schmutzigen Gläubigen an, diese Doppelmoralisten,

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