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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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auch konsequent erledigt hat. Er geht noch eine Runde durch die Wohnung. In seiner Funktion als romantischer Realist will er einfach noch ein paar Eindrücke sammeln. Dabei sieht er auch zum ersten Mal Hermann, der freundlich aus einem Bilderrahmen im Wohnzimmer grinst. Roy denkt an seinen Vater, der nie so ein freundliches Grinsen hatte, der immer nur ernsten Blickes durch die Welt wankte, und wenn er auf Roy schaute, der Vater, hatte dieser immer den Eindruck, er sei schuld an diesem Bitterblick. Seine Mutter hat eine ähnliche Art, ihn anzusehen. Irgendwann waren diese Schuldblicke aber so überdosiert, dass Roy sie nicht mehr ernst nehmen konnte. Warum lebt ihr nicht einfach ein anderes Leben, hätte Roy sie gern gefragt, seine Eltern, ein Leben mit Freiheit und Frohsinn. Auf ihn hätten sie keine Rücksicht nehmen müssen. Aber da sie sich so massiv auf ihn bezogen und all die Jahre meinten, sie wären die Eltern eines unendlich erkrankten Kleinkindes, konnten sie keinen eigenen Entwurf vom Leben entwickeln. Roy hätte sie nicht daran gehindert, ja sogar animiert hätte er sie gerne dazu, aber sie hätten schon selbst auf die Idee kommen müssen. Stattdessen sind sie langsam und schleichend verbittert und in ihrer Funktion als ewig besorgte Eltern an sich selbst und ihrem eigenen Hass zugrunde gegangen. Sie haben vergessen, sich um sich selbst zu kümmern.
    Die Angst, die seine Mutter jetzt vielleicht um ihn hat, die gönnt er ihr. Vielleicht kratzt sie ein Muster in ihren Herzklumpen aus Stein, vielleicht bringt die Angst sie einfach nur um. Ja, er wünscht sich von seiner Mutter echte Angst um seinen Verbleib. Aber er will da wieder hin, auf Dauer. Auch so ein Mutterleben, weiß Roy, ist nicht von Endlosdauer, und irgendwann wird sie auch einfach Umfallen vor lauter Angst oder Widersprüchlichkeit oder sonst irgendwas Ekelhaftem, was in sie kriechen wird. Krebs vielleicht, ja Krebs könnte sie auch kriegen. Oder ein Stein könnte sie treffen am Kopf, der sie behindert macht, und dann soll sie mal sehen, wie sie mit all den Schrauben, Tüten und Eimern fertig wird.
    Roy verlässt die Wohnung der alten, toten Frau und steht im dunklen Flur. Die Tür hat er leise verschlossen, was dahinter ist, hat er bereits vergessen. Er schaut nach oben, wo ein zerzauster, stinkender Hund vor einer Wohnungstür liegt und offenbar gekotzt hat. Zumindest riecht es so. Roy mag Hunde. Er geht einige Stufen aufwärts, ganz langsam, weil er das Tier nicht erschrecken will. Wahrscheinlich hat der Besitzer ihn ausgesperrt, weil er keine Hundekotze auf seinem Teppich verlangt. Der Hund zuckt komisch, und Roy geht langsam auf ihn zu, bückt sich dann zu ihm runter und als er den Hund anfasst merkt er, dass es ein Mensch ist. Denn er hat nackte Haut angefasst. Es fährt ein Schreck durch ihn, und er steht wieder auf. Der Mensch am Boden macht Geräusche, wie man sie sich kurz vor einem Ableben vorstellt. Kiloschwerer Atem, der unregelmäßig rein und raus geht, röcheln und leises Würgen, das wie eine kaputte Kaffeemaschine klingt, die nach einer Entkalkung schreit. Dann ein dumpfes, bassbetontes Geräusch, das klingt wie das Zusammentreffen von Kopf und Fußboden.
    Der Mensch ist zusammengerollt wie ein Igel, nur ohne Stacheln, demnach schutzlos vor allen Begaffern und Befingerern. Genau wie es Roy in seinem Leben immer ist. Er ist ja immer der stachellose Igel, der schutzlos den Naturgewalten ausgelieferte Depp gewesen. Und die Naturgewalten haben Namen wie Mutter, Vater, Werkstatt.
    Roy schaut jetzt also auf den zuckenden und röchelnden am Boden liegenden Körper, der aber seinerseits ihn nicht zu bemerken scheint. Er fasst den Menschen noch mal an, diesmal etwas deutlicher, doch außer Röcheln und Zucken gibt es keine Reaktion. Der Mensch hat erbrochen, ziemlich viel und gegen die Tür und auf den Boden und auf sich selbst. Es riecht nach hochprozentigem Alkohol. Außerdem sieht es so aus, als hätte der Mensch versucht, seine Hose auszuziehen und ja, uriniert hat er auch, der zusammengerollte Igelmensch. Plötzlich geht das Licht im Hausflur an, als Roy so nachdenklich beim auf dem Boden gekrümmten Menschen verharrt, und er hört Schritte, die sich durch das Treppenhaus knallen. Es sind schnelle, jugendliche und wenn Roys Wahrnehmung ihn nicht täuscht, männliche Schritte. Kurz bevor das Licht wieder ausgeht, das in einem Intervall von vielleicht dreißig Sekunden geschaltet ist, sieht Roy runter auf das zugekotzte und voll

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