Tropfen im Ozean
nicht mehr dran glaube und mich jedes Mal schimpfe, wenn ich mich bei diesen Tagträumen erwische.
Das mit dem Abitur hab ich dann bitter bereut. Nach vier Jahren wirklich harter Arbeit entschied sich nämlich der Geschäftsinhaber für jemanden, der genau diesen Abschluss hatte. Und als ich ihn mit zugeschnürter Kehle fragte, warum, sagte er:
„Weißt du, es geht mir nicht ums Abitur, ich weiß, dass du intelligent bist... und arbeiten kannst... aber wenn einer das Abi hat, dann hat er etwas gewollt und es geschafft – und das vermisse ich an dir. Du wartest immer ab, bis etwas zu deinen Gunsten passiert“.
Dieser Satz war wie eine Ohrfeige flach ins Gesicht gewesen. Aber auch, wenn es unendlich geschmerzt hatte, wurde er zum Auslöser für die entscheidende Änderung. Ich dachte nach, meldete mich für die Abendschule an, deckte mich mit vielen kleinen Jobs ein, zog von zu Hause aus und holte das Abitur nach.
Doch dass ich die Haut nicht abgestreift hatte, wurde mir jedes Mal klar, wenn ich meine Eltern besuchte. Jedes Mal spürte ich am Blick meines Vaters, dass er nicht richtig fand was ich tat. Allein das Nachholen des Abis war eine Schmach. Warum hatte ich es nicht gleich gemacht? Er litt darunter, dass er keine Tochter hatte, auf die er stolz sein konnte, so wie andere Väter. Ich hingegen litt darunter, dass ich es nicht schaffte, seine Anerkennung zu erringen, versuchte, trotz allem, immer noch und immer wieder, mir seinen Stolz zu verdienen. Aber mein nachgeholter Abischnitt lag über 1,5 und so hatte das Ergebnis meinen Vater nicht interessiert.
Keiner meiner Eltern kam zur Verleihung. Vielleicht hätte ich eine Chance gehabt, wenn ich Vaters Studienvorschlägen gefolgt wäre... Jura oder Medizin... aber auch diesen Gefallen tat ich ihm nicht. Immer, wenn ich ihn sah, hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht war, wie ich sein sollte.
„Filmwissenschaften!“ krakeelte er. „Was willst du denn damit? Ein No-name-Job! Brotlos! Perspektivlos! Ohne jede soziale Anerkennung!“
Das ging die ganzen fünf Jahre so. Kein Lob zum Bachelor, keine Freude über die gelungene Masterbewerbung oder gar den erfolgreichen Abschluss.
Diese Gedanken dämpften mein Hochgefühl. Auch, dass keiner von ihnen sich erkundigt hatte... nach den Prüfungen, dem Ergebnis oder... wie es mir ging. Immerhin, dachte ich trotzig – ich hatte einen Masterabschluss, das war doch schon mal was!
Ich beschloss, die ersten Tage nach der Zeugnisübergabe das zu tun, von dem ich glaubte, demnächst lange keine Zeit mehr zu haben: Einfach in den Tag hinein zu leben ohne Programm und Konzept.
Fünf Tage lang genoss ich dieses Nirwana-Gefühl mit Frühstück im Bett, Sekt am Vormittag, Büchern um mich herum, DVDs, einem Glas Wein und Pizzalieferservice am Abend. Ich war frei wie ein Vogel und genau das wurde mir am Ende peinlich bewusst: dass ich dieses so wunderbare Leben mit niemandem teilte. Meine bisherigen Beziehungen hatten nicht viel dazu beigetragen, mich nach jemandem zu sehnen, sondern mich eher in dem Klischee bestärkt: Männer wollen nur das Eine und sind nicht fähig, die Psyche einer Frau zu verstehen. Zudem konnte ich mich gegen die ungute Ahnung, dass meine Eltern meinen Prüfungsstress zu keiner Sekunde mitbekommen hatten, nicht wehren. Weder hatten sie mit mir gehofft, noch gebangt. Obwohl ich doch bei ihnen vorbeigefahren war und ihnen erzählt hatte, wie viel ich lernen musste, was die Prüfung alles beinhaltete... wann diese war... es hatte keinen Eindruck hinterlassen. Noch nicht einmal soviel, dass sie sich an die Prüfung erinnerten. Oder an das Datum der Zeugnisübergabe.
Als ich also wegen des bestandenen Abschlusses anrief, erpicht darauf, dass jemand sich mit mir freute, erwartete mich ein „Na, so was“, von meiner Mutter und ein „Aha“, seitens meines Vaters. Meine Mutter brachte es wieder mal ungewollt auf den Punkt: „Was nützt dir ein Abschluss ohne Job? Lieber ein Job ohne Abschluss. Bin ja mal gespannt, ob du was findest. Wo doch die großen Sender alle abgesagt haben“.
Sie war wie immer herrlich aufbauend. Ich glaube, ich habe noch nie ein Lob aus dem Mund meiner Mutter gehört. Höchstens ein widerwillig-pflichtbewusstes, weil ich sie deswegen angemacht hatte. Irgendwie kam sie mit mir und meiner Art nicht zurecht – dieses Gefühl hatte ich immer schon gehabt, das Gefühl, dass sie mich nicht wirklich mochte. Sie war immer reserviert. Ich kann mich nicht erinnern, dass
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