Tropfen im Ozean
sie mich jemals in den Arm genommen hatte, auch nicht, wenn sie sah, dass es mir schlecht ging. Aber meistens bemerkte sie das gar nicht. Neben „Na, so was“ war ihr Standardsatz: „An dich kommt man ja nicht ran“, so dass ich mich erneut und zusätzlich schuldig fühlte, weil ich wohl jemand war, den man nicht so gern knuddelte. Und das Blöde war: Ich hatte tatsächlich noch keinen Job.
All dies überfiel mich nach vier Tagen einsamen Lotterlebens wie ein kalter Guss. Ich setzte mich an den Rechner und checkte die Mails. Bewusst hatte ich meinen Account diese Tage nicht geöffnet. Bei den Bewerbungen hatte ich Mail- und Post-Adresse angegeben und im Briefkasten war bis vor fünf Tagen nichts Nennenswertes gewesen. Danach hatte ich nicht mehr geschaut. Ich war mir sicher, dass dafür mein Mail-Speicher umso voller war. Ich war mir sogar ganz sicher. Und damit er noch ein bisschen voller werden und ich die Qual der Wahl unter den Angeboten haben würde, hatte ich ihn nicht geöffnet. Bis heute.
Der Rechner fuhr hoch. Die Briefmarke mit dem Adler darauf zeigte die rote Zahl ‚193’. Unwillkürlich bekam ich feuchte Hände. Ich hatte 21 Bewerbungen versendet, fünf hatte ich vor den Prüfungen zurückbekommen – negativ.
Davon hatte ich mich nicht beirren lassen, die Zukunft war absolut offen mit 16 ausstehenden Antworten, darunter drei Favoriten. Nachdem ich alle Lotterie-Bescheide, die mir einen sechsstelligen Gewinn versprachen, sowie Viagra und Potenzmittel, Kredit-und Businessangebote, amazon- Buch- und Produktvorstellungen weggeklickt hatte, blieb nicht mehr viel übrig. Zwei Mails von Freundinnen, die Aufforderung eines Kommilitonen zu einer „Nachfeier“, Facebook behauptete wieder einmal, ich hätte viel verpasst und es lägen Nachrichten für mich vor... und last but not least ... elf Antworten auf meine Bewerbungen.
Mit klopfendem Herzen klickte ich die erste an – die für mich uninteressanteste. Wie würde ich reagieren, wenn die mich wollten?
Sie wollten mich nicht. Ich schluckte. Es tut uns leid, Ihnen mitteilen zu müssen... okay. Die Tatsache, dass es ein unbekannter kleiner Privatsender war, ärgerte mich dann doch. Aber vielleicht war ich da mit meinem Master überqualifiziert und sie hätten mich gar nicht bezahlen können? Von diesem Gedanken ermutigt, öffnete ich die nächste Mail.
„Vielen Dank für die Zusendung Ihrer Bewerbungsunterlagen, die wir in den nächsten Tagen zurücksenden. Leider besteht zurzeit in unserem Haus kein Bedarf...“
Ich biss mir auf die Lippen. Das war einer meiner Favoriten gewesen. Dann hätte ich zu meinen Eltern sagen können: Seht her, ich hab einen Job bei...! Ob ich meiner Mutter damit mal etwas anderes entlockt hätte als „Na, so was?“
Trotzig klickte ich meine anderen beiden Favoriten an. Absage. Absage.
Ein Stein fiel in meinen Magen und verklumpte sich dort mit hässlichen, minderwertigen Gedanken. Reglos saß ich vor dem Laptop und hörte mich atmen. Noch acht Antworten, sagte ich mir, noch acht! Aber die Favoriten sind weg, meldete mein Hirn. Nicht für immer, begehrte mein Optimismus auf. Wenn du eine Zeitlang bei kleineren Sendern gedient hast, kannst du Erfahrungen vorweisen... und eine gute Position, ein tolles Zeugnis, mit dem du dann bei künftigen Bewerbungen punkten kannst... diese Gedanken gaben mir den Mut, alle anderen Mails in schneller Reihenfolge anzusehen.
„Es tut uns leid, wir bedauern sehr... vielleicht in ein, zwei Jahren, im Moment sehen wir keine Möglichkeit... Ihre Unterlagen lesen sich interessant, aber... leider, leider, leider...“
Mit zusammengepressten Kiefern saß ich ungläubig vor dem Monitor. Das konnte nicht sein, das konnte nicht sein! Bitte, lieber Gott, verarsch mich jetzt nicht!
Im Morgenmantel rannte ich raus zum Briefkasten, verzweifelt, vielleicht war da was drin! Fünf waren noch offen, fünf ist viel! Aber als ich den übervollen Postkasten öffnete, fielen mir dicke DIN A-4 Umschläge entgegen. Dick ist nicht gut. Dick heißt, es sind zurückgeschickte Unterlagen drin.
Keiner wollte mich haben. Ich war arbeitslos.
Und am Boden zerstört.
Ich lag im Bett. Erneut im Nirwana. Benebelt vom Alk, um die Situation einigermaßen ertragen zu können. Hatte vorher noch Facebook geöffnet, die angeblichen Nachrichten checken, die doch nur ein Köder waren, mich mal wieder einzuloggen. Und Facebook hatte mir den Rest gegeben. Denn als sich die Startseite öffnete, fand ich jede Menge
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