Tropfen im Ozean
überhaupt so richtig wahrgenommen haben. Ein paar schon, klar, Paula, meine WG-Genossin... und Elisha, die mir die Tarotkarten legte und mein Zimmer ausgeräuchert hat, weil sie der Meinung war, da wohne noch ein alter Kobold drin, der mich ärgerte.
Aber so unterschiedlich wir auch alle waren, eines hatten wir an diesem Tag der Zeugnisübergabe gemeinsam: Wir waren voller Enthusiasmus und in einer „Wir verändern die Welt!“-Stimmung. Es war einfach großartig, dieses Gefühl, etwas geschafft zu haben – eine gute Note, ein guter Abschluss, etwas, worauf man stolz sein und das einem keiner mehr nehmen konnte. Jetzt ging es darum, Karriere zu machen - was immer das für den einzelnen auch bedeuten mochte. Das Bewusstsein, dass ein neuer Abschnitt vor uns lag – der längste in unserem Leben – der des Geldverdienens – die Phase, die entschied, was wirklich aus uns werden sollte, gab allem Gewicht.
Damals hatte ich kein Geld und aufgrund meines Alters schon gar keine Zeit gehabt, mir nach der Prüfung Urlaub irgendwo in der Welt zu gönnen, aber ich weiß noch, wie ich am Morgen nach der ausgiebigen Feier lange im Bett liegengeblieben war und schon das als Urlaub empfunden hatte. Keine Paukerei! Kein Praktikum! Keine Prüfung! Frei! In den Tag hinein leben! Freunde treffen... und noch mehr Bewerbungen schreiben als ich schon losgeschickt hatte.
Unter den Studenten war ich die Älteste gewesen. Ja, gut, ich bin ein Spätzünder. Obwohl mir mein Vater permanent und immer wieder klar gemacht hatte, wie wichtig es ist, überdurchschnittlich zu sein.
„Ohne Leistung bist du gar nichts“, hatte er mir ständig eingebläut, noch bevor ich in die Schule kam. „Du musst was darstellen, etwas erreichen, du brauchst gute Noten, um einen Beruf zu kriegen, der was hermacht, am besten mit Doktortitel. Mit dem hast du schon mal eine höhere Einstufung – egal, wo du dich bewirbst“.
Lange hatte ich versucht, seinen direkten wie subtilen Forderungen nachzukommen. Er war so dahinter her, mich ins Gymnasium zu bringen, dass er jeden Tag Noten und Möglichkeiten für das Übertrittzeugnis berechnete, mich abfragte, die Hausaufgaben kontrollierte und mit den Lehrern sprach. Immer wieder hoffte er, einer der Lehrer würde ihm offenbaren eine hochbegabte Tochter zu haben, aber das geschah nie. Ich sah durchschnittlich bis gut aus, brachte durchschnittlich bis gute Leistungen und natürlich fühlte ich mich schuldig deswegen. Aber ich machte mit – wenn es meinen Vater glücklich machte?
Als ich den Übertritt geschafft hatte, war er stolz auf sich, nicht auf mich. Er erzählte überall herum, was er dafür getan... wie er dies und jenes erkannt, mich auf den richtigen Weg gebracht hätte. Viel zu jung, um die Psychologie der Situation zu überreißen, strengte ich mich weiterhin an. Unterstufe, Mittelstufe... alles war gut... ich strampelte mich ab, dafür, dass mein Vater sich jedes Mal den Meisterbrief gab, wenn ich einen gute Note schrieb.
„Siehst du“, sagte er. „Wenn wir uns über dieses Thema neulich nicht unterhalten hätten, hättest du darüber nichts gewusst... wenn ich dir nicht die Nachhilfe in Mathe besorgt hätte...“
Meine Chamäleon-Eigenschaften liefen auf Hochtouren. Mimese wurde mein Spezialgebiet, aber Chamäleons müssen sich häuten, um zu wachsen und das ergab dann zum ersten Mal ein echtes Problem.
Ausgerechnet in der Oberstufe verließ mich jede Motivation. Ich wurde uneinsichtig und bockig. Da ich mich Vaters Anforderungen seit jeher nicht gewachsen fühlte, fing ich zum ungünstigsten Zeitpunkt an zu trotzen und versuchte die alte Haut abzustreifen. Wenn er sagte, ich solle lernen, lag ich in meinem Zimmer und hörte Musik. Wenn er mich aufforderte, einen Kurs, ein Austauschjahr, ein Sprachcamp zu besuchen, machte ich auf krank. Tatsache war: Zu seinem unsäglichen Entsetzen rutschte ich durchs Abitur, und während meine Leistung vorher vollständig sein Verdienst gewesen war, ging der Misserfolg natürlich ganz allein auf mein Konto.
Noch dazu wollte ich – der nächste Schock für meine Eltern – keinen neuen Anlauf nehmen. Damals war ich der Meinung, das Praktische läge mir mehr und nahm einen Job als Bedienung an, in der Hoffnung, ich würde das so gut machen und mit dem Inhaber ein dermaßen tolles Verhältnis aufbauen, dass er mir irgendwann die Geschäftsleitung übertragen würde. Solch hirnrissige Träume hatte ich oft – und hab sie teilweise heute noch. Nur, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher