... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
ebenso kalt wie strikt abgelehnt.) »Nur eines bitte und rate ich euch, rasiert euch, wenn möglich, täglich, womit immer, meinetwegen mit einem Glasscherben, oder gebt euer letztes Stück Brot dafür her, daß einer euch rasiert. Ihr schaut dann jünger aus und die Wangen werden rosiger, wenn an ihnen herumgeschabt worden ist. Nur nicht krank werden, nur nicht krank aussehen! Wollt ihr am Leben bleiben, dann gibt es nur ein Mittel: den Eindruck der Arbeitsfähigkeit erwecken. Es genügt hier, daß ihr wegen einer kleinen, banalen Verletzung, wegen einer Schuhdruckstelle, hinkt. Sieht so einen die SS, winkt sie ihn herbei und am nächsten Tag geht er garantiert ins Gas. Wißt ihr schon, was man bei uns einen Muselman nennt? Eine Jammergestalt, einen Herabgekommenen, der kränklich aussieht, abgemagert ist und körperlich nicht mehr schwer arbeiten kann. Über kurz oder lang, meist über kurz, wandert jeder Muselman ins Gas! Daher nochmals: rasiert euch, steht und geht immer stramm! Dann braucht ihr keine Angst vor dem Gas zu haben. Wie ihr da vor mir steht, zwar erst vierundzwanzig Stunden im Lager, aber immerhin, ihr braucht alle keine Angst vor dem Gas zu haben, außer vielleicht einer von euch – du«; jetzt wies er auf mich; »du bist mir doch nicht bös? Aber ich sag’s euch offen: höchstens der«, jetzt deutete er mit dem Kopf wieder nach mir, »unter euch allen höchstens der kommt für die nächste Selektion in Betracht. Also beruhigt euch!« Ich schwöre: ich habe damals gelächelt; und ich bin überzeugt, jeder andere an meiner Stelle und an diesem Tage hätte nichts anderes getan.
Gotthold Ephraim Lessing war es, der einmal gesagt hat: »Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.« In einer abnormalen Situation ist eine abnormale Reaktion eben das normale Verhalten. Auch als Psychiater erwarten wir sozusagen, daß ein Mensch, je normaler er ist, desto abnormaler auf die Tatsache reagieren wird, daß er in die abnorme Situation geraten ist, etwa in eine Irrenanstalt aufgenommen worden zu sein. Auch die Reaktion des Häftlings auf seine Aufnahme ins Konzentrationslager stellt einen abnormen Seelenzustand dar, an sich betrachtet aber eine normale und, wie sich zeigen soll, typische Gemütsreaktion, sofern sie im Zusammenhang der so gegebenen Situation gesehen wird.
Die zweite Phase: Das Lagerleben
Apathie
Die Reaktionsweise, wie wir sie gekennzeichnet haben, beginnt nach wenigen Tagen sich zu wandeln. Nach dem ersten Stadium des Schocks schlittert der Häftling in das zweite Stadium hinein, in das Stadium der relativen Apathie. Es kommt allmählich zu einem inneren Absterben. Abgesehen von den vorhin besprochenen diversen Affektreaktionen erlebt der neu eingelieferte Häftling in der ersten Zeit des Lagerlebens in qualvollster Weise auch noch anderweitige Gemütsregungen, und sie alle beginnt er alsbald in sich abzutöten. Da ist vor allem eine grenzenlose Sehnsucht nach seinen Leuten daheim. Eine Sehnsucht, die so brennend erlebt werden kann, daß man nur mehr ein Gefühl hat: zu vergehen. Dann ist da der Ekel. Der Ekel vor all der Häßlichkeit, schon rein äußerlich, von der sich der Häftling umgeben findet. Er ist wie die meisten Kameraden in Lumpen »eingekleidet« worden, die eine Vogelscheuche im Vergleich mit seinem Aufzug elegant erscheinen lassen. Im Lager, zwischen den Baracken, gibt es nichts als Morast, und je mehr an dessen Fortschaffung, am »Planieren« gearbeitet wird, um so mehr kommt man mit ihm in Berührung. Gerade der Neueingelieferte wird gern in gewisse Arbeitskolonnen eingeteilt, in denen er mit Latrinenreinigung, Jaucheabfuhr usw. beschäftigt wird. Wenn dann bei der Abfuhr über holprige Felder die Jauche – wie gewöhnlich – ins Gesicht spritzt, wird ein Zusammenzucken oder der Versuch des Wegwischens sicher nur mit einem Stockhieb seitens des Capos quittiert werden, der sich über die »Zimperlichkeit« seines Arbeiters aufregt.
Das Abtöten der normalen Gefühlsregungen schreitet dann immer weiter fort. Anfangs schaut der Häftling weg, wenn er etwa zum Appell kommandiert ist, um beim Strafexerzieren irgendeiner Gruppe zuschauen zu müssen. Noch kann er den Anblick sadistisch gequälter Menschen, den Anblick von Kameraden, die stundenlang im Dreck auf und nieder müssen und hierbei das nötige Tempo durch Prügel diktiert bekommen, nicht ertragen. Tage oder Wochen später geht es ihm aber schon anders: Frühmorgens,
Weitere Kostenlose Bücher