... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
noch im Dunkeln, steht er in seiner Arbeitskolonne abmarschbereit auf einer der Lagerstraßen, vor dem Lagertor; da hört er Geschrei, blickt hin und sieht mit an, wie ein Kamerad immer wieder zu Boden geboxt, wieder aufgehoben und wieder niedergeboxt wird – warum? Weil er fiebert, aber erst seit der Nacht, und so nicht rechtzeitig (in der Ambulanz) die Fieberhöhe kontrollieren lassen und sich krankmelden konnte. Jetzt wird er dafür bestraft, daß er den aussichtslosen Versuch unternommen hat, am Morgen krankgeschrieben zu werden, um nicht zur Außenarbeit hinausmarschieren zu müssen. Der beobachtende Häftling aber, der sich nun schon im zweiten Stadium seiner psychischen Reaktionen befindet, schaut nicht mehr weg. Gleichgültig, bereits abgestumpft, kann er ruhig hinsehen. Oder: wenn er selber abends in der Ambulanz gedrängt dasteht, in der Hoffnung, wegen seiner Verletzungen oder wegen seines Hungerödems oder Fiebers auf zwei Tage in »Schonung« geschrieben zu werden, so daß er während dieser zwei Tage nicht zur Arbeit hinausmarschieren muß, dann wird er auch ruhig zusehen, wenn da einmal ein zwölfjähriger Junge hereingetragen wird, für den es im Lager keine Schuhe mehr gab und der dadurch gezwungen war, mit bloßen Füßen im Schnee stundenlang Appell zu stehen und tagsüber Außenarbeit zu leisten; jetzt sind seine Zehen abgefroren, und der Ambulanzarzt zupft die abgestorbenen schwärzlichen Zehenglieder mit der Pinzette von den Gelenken. Ekel, Grauen, Mitleid, Empörung, das alles hat unser Zuseher in diesem Augenblick eigentlich nicht mehr zu empfinden vermocht. Leidende, Kranke, Sterbende, Tote – all dies ist ein so geläufiger Anblick nach einigen Wochen Lagerleben, daß es nicht mehr rühren kann.
Eine Zeitlang lag ich in einer Fleckfieberbaracke, inmitten durchwegs hochfiebernder und deliranter Patienten und vieler unter ihnen, die sterbend waren. Wieder ist einer gerade gestorben. Was geschieht, zum x-ten Male – zum x-ten Male eben, ohne eine Gefühlsreaktion noch auslösen zu können? Ich sehe zu, wie sich ein Kamerad nach dem andern an die noch warme Leiche heranmacht; der eine ergattert die übriggebliebenen verdreckten Kartoffeln vom Mittagessen, der andere hat festgestellt, daß die Holzschuhe an der Leiche doch noch etwas besser sind als die, welche er selber trägt, und tauscht die Paare aus; ein dritter unternimmt das gleiche mit dem Rock des Toten, ein weiterer schließlich ist froh, daß er sich einen – man denke: echten! – Spagat sichern kann. Teilnahmslos sehe ich dem zu. Endlich raffe ich mich auf und trage dem »Pfleger« auf, die Leiche aus der Baracke (einer Erdhütte) hinauszuschaffen. Sobald er sich dazu entschließt, packt er den Leichnam an den Beinen, läßt ihn auf den schmalen Mittelgang zwischen den beiden Bretterreihen links und rechts davon – wo die fünfzig Fiebernden liegen – hinabkollern und schleift ihn dann über den holprigen Erdboden zur Barackentür. Dort gibt es zwei Stufen, die hinauf und hinaus ins Freie führen – immer ein Problem für uns vom chronischen Hunger Ermattete: ohne Zuhilfenahme der Hände, ohne mit ihnen an den Pfosten uns hochzuziehen, können wir alle, seit Monaten im Lager, schon längst nicht mehr mit bloßer Kraft der Beine das eigene Gewicht diese 2 x 20 cm emporziehen. Jetzt kommt der Mann mit der Leiche. Mühsam schleppt er sich selber und dann den Toten hinauf und hinaus – erst die Füße des Toten, dann den Rumpf, bis schließlich mit einem unheimlichen klappernden Geräusch der Schädel über die zwei Stufen kollert. Unmittelbar darauf wird das Faß mit der Suppe zur Baracke gebracht, die Suppe ausgeteilt und verschlungen. Mein Platz ist gegenüber der Tür, am andern Barackenende, neben dem einzigen kleinen Fenster, das knapp über dem Erdboden liegt. Meine kalten Hände umklammern die heiße Suppenschüssel. Während ich gierig den Inhalt schlürfe, schiele ich zufällig beim Fenster hinaus: draußen gafft der Leichnam, den man soeben hinausgeschafft, mit starren Augen durchs Fenster herein. Vor zwei Stunden habe ich mit diesem Kameraden noch gesprochen. Ich schlürfe die Suppe weiter. Wäre ich nicht quasi aus professionellem Interesse über meine eigene Ungerührtheit selber erstaunt gewesen, dieses Erlebnis wäre mir nicht in Erinnerung geblieben: so wenig gefühlsbetont war das Ganze.
Was weh tut
Die Apathie, die Abstumpfung des Gemüts, die innere Wurstigkeit und das Gleichgültigwerden – die
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