... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
was man alles könne, seien nur angeführt: die ganze Zeit des Lagerlebens über ohne Zähneputzen auskommen und trotz des sicherlich erheblichen Vitaminmangels der Kost ein besseres Zahnfleisch haben als je zuvor (auch zur Zeit gesündester Ernährung). Oder: ein halbes Jahr lang ein und dasselbe Hemd tragen, bis man ihm mit bestem Willen nicht mehr ansieht, daß es eines war; tagelang wegen Einfrierens der Wasserleitung im Waschraum sich überhaupt nicht, nicht einmal partiell waschen können und trotz wunder Stellen an den Händen, die von Erdarbeiten verschmutzt sind, keine eiternden Wunden bekommen (freilich nur solange, als nicht die Frosteinwirkungen mit im Spiel sind). Oder: als Mensch, den früher das leiseste Geräusch im Nebenzimmer geweckt und nicht mehr wieder hatte einschlafen lassen, aneinandergepreßt neben einem Kameraden liegen, aus dessen Nase in einer Entfernung von wenigen Zentimetern vom eigenen Ohr heftiges Schnarchen tönt; und trotzdem fällt man, kaum daß man sich hinlegt, in tiefen Schlaf. Da mußte uns so recht zu Bewußtsein kommen, wie richtig der Satz von Dostojewski ist, in dem er den Menschen einmal geradezu definiert als das Wesen, das sich an alles gewöhnt. Uns könnte man danach fragen, wir könnten sagen, ob und wieweit dies stimmt, daß der Mensch sich an alles gewöhnen kann; ja, werden wir sagen – aber man frage uns nicht, wie...
»In den Draht gehn«?
Aber noch sind wir im Verlauf unserer psychologischen Untersuchung und noch waren wir damals, im Verlaufe des Geschehens um uns her und mit uns, nicht so weit. Noch befanden wir uns eben in der ersten Phase der seelischen Reaktion. Die Ausweglosigkeit der Situation, die täglich, stündlich, minütlich lauernde Todesgefahr, die Nähe des Todes anderer – der Majorität – machte es eigentlich selbstverständlich, daß nahezu jedem eine wenn auch noch so kurze Zeit lang der Gedanke an einen Selbstmord kam. Aus einer weltanschaulichen Grundeinstellung heraus, die an andern Stellen noch klar werden wird, habe ich selber unmittelbar vor dem Einschlafen am ersten Abend in Auschwitz sozusagen von einer Hand in die andere mir das Versprechen abgenommen, nicht »in den Draht zu laufen«. Mit diesem lagerüblichen Ausdruck wird die lagerübliche Methode der Selbsttötung bezeichnet: Berühren des mit elektrischer Hochspannung geladenen Stacheldrahts. Nicht in den Draht zu gehen, dieser negative Entschluß brauchte einem in Auschwitz freilich nicht schwer zu fallen: der Selbsttötungsversuch war dort schließlich ziemlich gegenstandslos; der durchschnittliche dortige Lagerinsasse konnte, rein erwartungsmäßig im Sinne einer Wahrscheinlichkeitsrechnung oder ziffernmäßigen »Lebenserwartung«, doch nicht damit rechnen, zu dem ganz geringen Prozentsatz derer zählen zu dürfen, die auch alle weiteren, noch bevorstehenden Selektionen und diversen Selektionsarten überleben würden. In Auschwitz fürchtet der Häftling, der noch im Schockstadium steht, den Tod ganz und gar nicht; ihm ist in den ersten Tagen seines Aufenthaltes die Gaskammer längst kein Schrecken mehr, in seinen Augen stellt sie lediglich etwas dar, was den Selbstmord erspart.
Ich persönlich habe, laut wiederholten Aussagen unvoreingenommener Kameraden, kaum zu denen gehört, die der Aufnahmeschock besonders down gekriegt hatte, das darf ich wohl sagen; trotzdem habe ich nur lächeln können und dies ganz aufrichtig, als am Vormittag nach der ersten Auschwitzer Nacht folgendes sich abspielte: Trotz »Blocksperre« – während derer niemand ohne ausdrücklichen Auftrag seine Baracke verlassen darf – hatte sich ein bekannter Kollege, der schon Wochen vor uns in Auschwitz gelandet war, in unsere Baracke geschwindelt. Er wollte uns beruhigen, aufklären und trösten. Schon so abgemagert, daß wir ihn zuerst gar nicht wiedererkannt hatten, aber mit mehr oder minder gespielter Heiterkeit und Wurstigkeit gab er uns in aller gebotenen Eile einige Tips: »Keine Angst! Habt keine Angst vor den Selektionen! Der M. (SS-Oberarzt des Lagers) hat für Ärzte etwas übrig.« (Es war nicht wahr; aber ich will hier nicht darauf eingehen, wie falsch es war und wie teuflisch der Anschein gemeint war, den dieser »Arzt« sich zu geben pflegte. Ich weiß nur eines: ein Blockarzt, selber Häftling, ein Mann von etwa sechzig Jahren, schilderte mir, wie er den Dr. M. angefleht hatte, seinen Sohn, der für die Gaskammer bestimmt worden war, ihm herauszugeben – Dr. M. aber hatte das
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