... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
wenigstens ein wirkliches Bad. Wieder bekam unser Begnadigungswahn Nahrung: die SS schien ausgesprochen nett zu sein! Bald aber merkten wir: sie war so lange nett zu uns, als sie noch Armbanduhren an unseren Handgelenken wahrnahm und, in recht gutmütigem Ton, uns zur »Übergabe« zuredete, nachdem wir ja ohnehin alles, was wir noch bei uns hatten, abgeben müßten. Jeder von uns dachte sich, verloren ist verloren, und wenn dieser relativ nette Mensch die Uhr privat erhält – warum nicht? Vielleicht wird er einem dann irgendeinen Vorteil verschaffen.
Desinfektion
Nun warten wir in einer Baracke, die den Vorraum zur »Desinfektion« bildet. SS erscheint mit Decken, in die alle Konserven, alle Uhren und aller Schmuck hineingeworfen werden muß. Noch gibt es, zum Gaudium der mithelfenden »alten« Häftlinge, Naive unter uns, die zu fragen wagen, ob man nicht wenigstens den Ehering behalten dürfe oder ein Medaillon, einen Talisman, ein Andenken? Noch kann niemand recht daran glauben, daß einem wirklich buchstäblich alles weggenommen wird. Da versuche ich, einen der alten Häftlinge ins Vertrauen zu ziehen. Ich pirsche mich an ihn heran, weise auf eine Papierrolle in der Brusttasche meines Mantels und sage: »Du, paß auf! Hier habe ich ein wissenschaftliches Buchmanuskript bei mir – ich weiß, was du sagen wirst – ich weiß: mit dem Leben davonkommen, das nackte Leben hinwegretten, ist alles, ist schon das Äußerste, was man vom Schicksal erbitten darf. Aber ich kann mir nicht helfen, ich bin eben so größenwahnsinnig und will mehr. Ich will dieses Manuskript behalten, irgendwie erhalten – es enthält mein Lebenswerk; verstehst du mich?« Da beginnt er zu verstehen, jawohl: zu grinsen beginnt er übers ganze Gesicht, erst mehr mitleidig, dann mehr belustigt, spöttisch, höhnisch, bis er mit einer Grimasse mich anbrüllt und meine Frage mit einem einzigen Wort, das er herausbrüllt, quittiert, mit jenem Wort, das als das Wort im Sprachschatz des Lagerhäftlings seither immer wieder zu hören war. Er brüllt: »Scheiße!!« Da weiß ich, wie die Dinge stehen. Ich mache das, was den Höhepunkt dieser ganzen ersten Phase psychologischer Reaktionen darstellt: ich mache einen Strich unter mein ganzes bisheriges Leben.
Plötzlich kommt Bewegung in den Haufen der ratlos debattierenden, mit schreckhaft blassen Gesichtern dastehenden Kameraden vom Transport. Wieder die mit heiserer Stimme geschrieenen Kommandos; alles wird mit Püffen und im Laufschritt in den eigentlichen, unmittelbaren Badevorraum hineingetrieben. Hier stehen wir in einer Halle, in deren Mitte ein SS-Mann wartet, bis unsere Gruppe vollzählig versammelt ist. Dann beginnt er: »Ich lasse euch zwei Minuten Zeit. Ich schaue auf meine Uhr. In diesen zwei Minuten müßt ihr ganz ausgezogen sein; alles schmeißt ihr an Ort und Stelle hin, nichts darf mitgenommen werden, ausgenommen die Schuhe, der Gürtel oder die Hosenträger, eine Brille und allenfalls das Bruchband. Ich stoppe also zwei Minuten – los!!« In undenkbarer Hast reißen sich unsere Leute, was sie an sich haben, vom Leibe; je näher das Ende der Frist herannaht, um so nervöser und hilfloser zerren sie an Kleidungs- und Wäschestücken, Bändern und Riemen usw. usw. Schon hört man die ersten klatschenden Geräusche: Ochsenziemer prasseln Schläge auf nackte Leiber. Dann werden wir in einen andern Raum getrieben. Dort werden wir geschoren; nicht nur am Schädel: kein Haar bleibt am ganzen Körper... Dann werden wir in den Brauseraum getrieben. Wir nehmen Aufstellung. Wir erkennen einander kaum mehr wieder. Aber erfreut und hochbeglückt stellen einzelne fest, daß aus den Brausetrichtern wirklich – Wasser herabtropft...
Was einem bleibt: die nackte Existenz
Während wir noch auf die Dusche warten, erleben wir so recht unser Nacktsein: daß wir jetzt wirklich gar nichts mehr haben außer diesen unseren nackten Körper (unter Abzug seiner Haare), daß wir jetzt nichts mehr besitzen außer unsere buchstäblich nackte Existenz. Was ist noch als äußerliches Bindeglied zu unserem früheren Leben geblieben? Mir z.B. die Brille und der Gürtel; ihn freilich mußte ich später gegen ein Stück Brot eintauschen. Wer ein Bruchband hatte, für den gab es abends noch eine kleine Sonderaufregung: der Blockälteste unserer Baracke hielt eine Begrüßungsansprache, in der er »ehrenwörtlich« versicherte, denjenigen, der in seinem Bruchband »Dollars oder Edelmetall« eingenäht
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