... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Wissen innerlich genau so hingegeben sein können an diese liebende Schau, diese geistige Zwiesprache wäre genau so intensiv gewesen und genau so erfüllend. So weiß ich in diesem Augenblick um die Wahrheit: »Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz... Denn Liebe ist stark wie der Tod.« (Das Hohelied, VIII, 6.)
Meditationen im Graben
Die mögliche Verinnerlichung, die bei dem, der dazu bereit ist, das Leben im Konzentrationslager erfährt, führt auch dazu, daß er aus der Leere und Öde, aus der geistigen Inhaltsarmut des gegenwärtigen Daseins in die Vergangenheit flüchtet. Sich selbst überlassen, beschäftigt sich seine Phantasie immer wieder mit verflossenen Erlebnissen, aber nicht etwa mit den großen Erlebnissen – die alltäglichste Begebenheit, die nichtigsten Dinge oder Geschehnisse seines früheren Lebens sind es oft, um die sein Denken kreist. In der wehmutsvollen Erinnerung erscheinen sie dem Häftling dann wie verklärt. Abgewendet von der Umwelt und von der Gegenwart, rückgewendet in die Vergangenheit, gewinnt das Innenleben ein eigenartiges Gepräge. Die Welt und das Leben sind entrückt. Sehnsüchtig langt der Geist nach ihnen zurück: Man fährt mit der Straßenbahn, man kommt nach Hause, sperrt die Wohnungstür auf, das Telefon klingelt, man hebt den Hörer ab, man schaltet die elektrische Zimmerbeleuchtung ein – solche scheinbar lächerlichen Details sind es, die der Häftling in seinem Rückerinnern gleichsam streichelt. Ja, die wehmütige Erinnerung an sie vermag ihn zu Tränen zu rühren! Diese Tendenz zur Verinnerlichung, die sich bei manchen Häftlingen geltend macht, führt dort, wo sich die Gelegenheit hierzu bietet, zu intensivstem Erleben von Kunst oder Natur. Und die Intensität solchen Erlebens kann die Umwelt und die ganze furchtbare Situation vollends vergessen lassen. Wer unsere Gesichter gesehen hätte, strahlend vor Entzücken, als wir durch die vergitterten Luken eines Gefangenentransportwaggons auf der Bahnfahrt von Auschwitz in ein bayerisches Lager auf die Salzburger Berge hinaussahen, deren Gipfel gerade im Abendrot erstrahlten, der hätte es nie glauben können, daß es die Gesichter von Menschen waren, die praktisch mit ihrem Leben abgeschlossen hatten; trotzdem – oder gerade deshalb? – waren sie hingerissen vom jahrelang entbehrten Anblick der Naturschönheit. Und auch noch im Lager, bei der Arbeit, macht der eine oder andere den neben ihm schuftenden Kameraden gelegentlich einmal auf irgendein prächtiges Bild aufmerksam, das sich da seinen Blicken bieten mag – etwa mitten im Bayerischen Wald (wo es getarnte, unterirdische Riesenfabriken für Rüstungszwecke zu bauen galt), zwischen dessen hohen Baumstämmen vielleicht gerade die untergehende Sonne so hindurchleuchtet wie in dem bekannten Aquarell von Dürer. Oder es kam einmal dazu, daß eines Abends, als wir, todmüde von der Arbeit, die Suppenschüssel in der Hand, in den Baracken auf dem Erdboden schon hingestreckt lagen, plötzlich ein Kamerad hereinstürzte, um uns aufzufordern, hinauszueilen auf den Appellplatz, trotz aller Müdigkeit und trotz der Kälte draußen, nur um uns den Anblick eines Sonnenuntergangs nicht entgehen zu lassen.
Und wenn wir dann draußen die düster glühenden Wolken im Westen sahen und den ganzen Horizont belebt von den vielgestaltigen und stets sich wandelnden Wolken mit ihren phantastischen Formen und überirdischen Farben vom Stahlblau bis zum blutig glühenden Rot und darunter, kontrastierend, die öden grauen Erdhütten des Lagers und den sumpfigen Appellplatz, in dessen Pfützen noch sich die Glut des Himmels spiegelte, dann fragte der eine den andern, nach Minuten ergriffenen Schweigens: »Wie schön könnte die Welt doch sein!«...
Monolog im Morgengrauen
Oder: Du stehst im Graben bei der Arbeit; grau ist die Morgendämmerung um dich, grau ist der Himmel über dir, grau ist der Schnee im fahlen Dämmerlicht, grau sind die Lumpen, in die deine Kameraden gehüllt sind, grau sind ihre Gesichter. Wieder hebst du an mit deiner Zwiesprache mit dem geliebten Wesen, oder, zum tausendsten Mal, beginnst du dein Klagen und dein Fragen zum Himmel zu schicken. Zum tausendsten Mal ringst du um eine Antwort, ringst du um den Sinn deines Leidens, deines Opfers – um den Sinn deines langsamen Sterbens. In einem letzten Aufbäumen gegen die Trostlosigkeit eines Todes, der vor dir ist, fühlst du deinen Geist das Grau, das dich umgibt, durchstoßen, und in diesem letzten
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