... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Geiste Reden. Schließlich begann ich, auf winzige Zettel stenographische Stichworte hinkritzelnd, mit der Rekonstruktion jenes Manuskripts, das ich in der Auschwitzer Desinfektionsbaracke hinwerfen mußte. Das Allerschwerste aber, was mir bezüglich der Delirien je geschildert wurde, mußte ein Kamerad erleben, der sich im Fleckfieber dem Tode nahe wußte und nun beten wollte – im Fieberdelir aber konnte er die Worte nicht finden...
Eine spiritistische Séance
Hie und da mag einmal auch eine wissenschaftliche Debatte, auch im Lager, sich entspinnen. Ja, einmal habe ich im Lager sogar etwas erlebt, was ich, obzwar es mir professionell irgendwie naheliegen mußte, nicht einmal im früheren, normalen Leben kennengelernt hatte: eine spiritistische Séance. Ich war vom Oberarzt des Lagers, der in mir einen psychologischen Fachmann witterte, zu einer höchst geheimen Veranstaltung in dem engen Verschlag eingeladen, den er im Krankenrevier zur Behausung hatte. Dort versammelte sich ein kleiner Kreis, u.a. höchst illegalerweise der Sanitätsunteroffizier unseres Lagers. Ein ausländischer Kollege begann, mit einer Art Gebet die Geister zu beschwören. Der Revierschreiber saß vor einem leeren Blatt Papier und sollte einen Bleistift darauf halten, ohne jede bewußte Absicht, irgend etwas niederzuschreiben. Im Verlaufe von zehn Minuten – danach wurde die Sitzung wegen angeblichen Versagens der Geister oder des Mediums abgebrochen – zog nun sein Bleistift ganz, ganz langsam ein paar Linien übers Papier, die deutlich zu entziffern waren als »vae v«. Man beteuerte, der Lagerschreiber habe nie Latein gelernt und auch noch nie die Worte »vae victis!« – wehe den Besiegten! – gehört. Fragt man mich, dann sage ich: unbewußt wird er sie wohl schon einmal, irgendwann in seinem Leben, gehört und übersetzt bekommen haben und »dem Geist« – dem Geiste seines Unterbewußtseins – mußte es in unserer damaligen Situation, wenige Monate vor unserer Befreiung bzw. dem Kriegsende, naheliegen, gerade an diese Worte zu denken...
Die Flucht nach innen
Trotz aller Primitivität, in die der Mensch im Konzentrationslager nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem Innenleben zurückgeworfen ist, machen sich, wenn auch sporadisch, doch Ansätze bemerkbar im Sinne einer ausgesprochenen Tendenz zur Verinnerlichung. Empfindsame Menschen, die von Haus aus gewohnt sind, in einem geistig regen Dasein zu stehen, werden daher unter Umständen trotz ihrer verhältnismäßig weichen Gemütsveranlagung die so schwierige äußere Situation des Lagerlebens zwar schmerzlich, aber doch irgendwie weniger destruktiv in bezug auf ihr geistiges Sein erleben. Denn gerade ihnen steht der Rückzug aus der schrecklichen Umwelt und die Einkehr in ein Reich geistiger Freiheit und inneren Reichtums offen. So und nur so ist die Paradoxie zu verstehen, daß manchmal die zarter Konstituierten das Lagerleben besser überstehen konnten als die robusteren Naturen.
Um derartiges Erleben halbwegs verständlich zu machen, bin ich freilich wieder gezwungen, auf Persönliches zurückzugreifen. Wie war es doch damals, wenn wir zu früher Morgenstunde aus dem Lager zum Bauplatz, zur »Baustelle« hinausmarschierten? Ein Kommando ertönt: »Arbeitskommando Weingut, im Gleichschritt – marsch!! Links – 2 – 3 – 4 – links – 2 – 3 – 4 – links – 2 – 3 – und-links – 2 – 3 – 4! Vordermann, Seitenrichtung! Links – und – links – und – links – Mützen ab!« So läßt es die Erinnerung nun wieder in meinem Ohr erklingen. Bei »Mützen ab!« passieren wir das Lagertor. Scheinwerfer sind auf uns gerichtet. Wer jetzt nicht stramm und schön ausgerichtet in der Fünferreihe marschiert, hat mit dem Tritt eines Stiefelabsatzes zu rechnen. Womöglich übler dran ist derjenige, der wegen der Kälte die Mütze wieder über die Ohren zu ziehen gewagt hat, noch bevor das Kommando hierzu die Erlaubnis gibt. Jetzt stolpern wir in der Finsternis weiter über die großen Steine und durch die meterlangen Pfützen der Lagerzufahrtsstraße. Immer wieder brüllen die begleitenden Wachtposten und treiben uns mit dem Gewehrkolben an. Wer sehr wunde Füße hat, hängt seinen Arm in den seines Nebenmannes, dessen Füße etwas weniger schmerzen. Es wird unter uns kaum ein Wort gewechselt; der eisige Wind vor Sonnenaufgang läßt es nicht ratsam erscheinen. Den Mund hinter dem aufgeschlagenen Rockkragen versteckt, murmelt nun der neben mir
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