... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
meiner Deportierung gewohnt habe. Wir befanden uns zu fünfzig in je einem kleinen Gefangenenwaggon, der zwei kleine, vergitterte Luken besaß. Da ohnehin jeweils nur eine Gruppe von uns auf dem Boden hocken konnte, während die übrigen stundenlang zu stehen gezwungen waren, drängten sich letztere meistens zu diesen Luken. Auch ich war unter ihnen. Was ich, zwischen den Köpfen vor mir und durch die Gitterstäbe hindurch, auf den Zehenspitzen stehend, von meiner Vaterstadt sehen konnte, wirkte ungemein gespenstisch. Wir alle fühlten uns mehr tot als lebendig. Man nahm an, der Transport gehe nach Mauthausen. Wir rechneten daher mit keiner längeren Lebensdauer als durchschnittlich ein bis zwei Wochen. Die Straßen, Plätze, Häuser meiner Kindheit und Heimat sah ich – dies war ein deutliches Gefühl -, als ob ich bereits gestorben wäre und wie ein Toter aus dem Jenseits, selber ein Gespenst, auf diese gespenstisch wirkende Stadt herabsähe. – Jetzt fährt der Zug aus der Station, nach stundenlangem Warten. Jetzt kommt die Gasse – meine Gasse! Da fange ich zu betteln an: die jungen Burschen, die viele Jahre Lagerleben schon hinter sich haben und für die eine solche Reise allerhand an Eindrucksmöglichkeiten und Erlebnisfülle bedeutet, gaffen aufmerksam durch die Luke. Sie bitte ich nun, mich doch bloß für einen Augenblick vorzulassen. Ich versuche ihnen verständlich zu machen, was gerade ein Blick da hinaus für mich eben bedeutet. Halb grob und empört, halb höhnisch und verächtlich wird meine Bitte aber abgelehnt und mit der Bemerkung quittiert: »So viele Jahre hast du da gewohnt? Na, dann hast du ja schon genug gesehen!«
Politik und Religion
Diese Unsentimentalität des langjährigen Lagerhäftlings ist eben eine der gefühlsmäßigen Ausdruckserscheinungen der Entwertung all dessen, was nicht dem primitivsten Interesse der Lebenserhaltung nützen kann. Alles übrige muß dem Häftling als ausgesprochener Luxus erscheinen. Dies führt zu einem Zurücknehmen aller geistigen Fragen, einem Zurückziehen aller höheren Interessen. Im allgemeinen herrscht im Lager sozusagen ein kultureller Winterschlaf. Ausgenommen von dieser mehr oder minder gesetzmäßigen Erscheinung sind nur zweierlei Interessen: erstens politische Interessen – begreiflicherweise – und zweitens – bemerkenswerterweise – das religiöse Interesse. Politisiert wird im Lager allenthalben und fast ununterbrochen, und handle es sich auch nur um ein begieriges Aufnehmen und Weiterleiten der durchgesickerten Gerüchte, etwa über die momentane militärische Lage oder dergleichen. Da die Gerüchte jedoch größtenteils einander widersprechen und widersprechende Gerüchte einander in rascher Abfolge ablösen, stellen sie schließlich nichts weiter dar als einen Beitrag zum aufreibenden »Nervenkrieg« in den Seelen der Häftlinge. Denn immer wieder und immer mehr wurden die aufschießenden Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende, von dem die meisten, die optimistischen Gerüchte wissen wollten, enttäuscht, bis einzelne Gemüter in endgültige Hoffnungslosigkeit versanken. Gerade die grundsätzlichen Optimisten unter uns waren es, die einem dabei oft am meisten auf die Nerven gingen.
Das religiöse Interesse der Häftlinge, sobald und sofern es aufkeimt, ist das denkbar innigste. Der neu hinzugekommene Lagerinsasse wird oft nicht ohne Erschütterung von der Lebendigkeit und Tiefe religiösen Empfindens überrascht sein. Am eindrucksvollsten in dieser Beziehung sind wohl die improvisierten Gebete oder Gottesdienste, wie wir sie im Winkel einer Lagerbaracke erleben konnten oder in einem finsteren, versperrten Viehwaggon, in dem wir von einer entfernter gelegenen Baustelle, müde, hungrig, frierend in unseren durchnäßten Fetzen, nach der Arbeit ins Lager zurückgebracht wurden.
Das Fleckfieber – an dem im Winter und Frühjahr 1945 bekanntlich fast alle Lagerinsassen erkrankten – hatte, abgesehen von der großen Sterblichkeit unter den entkräfteten, bis zuletzt schwer arbeitenden, dann höchst unzulänglich untergebrachten und medikamentös oder pflegerisch meist überhaupt nicht versorgten Kranken, einige sehr unangenehme Begleiterscheinungen: einen kaum überwindlichen Ekel vor jedem Bissen Essen (eine zusätzliche Lebensgefährdung darstellend) und die schrecklichen Delirien! Um diesen auszuweichen, tat ich dasselbe wie viele andere: ich versuchte, mich den größten Teil der Nacht wach zu halten. Stundenlang hielt ich im
Weitere Kostenlose Bücher