... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Aufbäumen fühlst du, wie dein Geist über diese ganze trostlose und sinnlose Welt hinausdringt und auf deine letzten Fragen um einen letzten Sinn zuletzt von irgendwoher dir ein sieghaftes »Ja!« entgegenjubelt. Und in diesem Augenblick – leuchtet ein Licht auf in einem fernen Fenster eines Bauerngehöfts, das wie eine Kulisse am Horizont steht, inmitten des trostlosen Grau eines dämmernden bayrischen Morgens -, »et lux in tenebris lucet«, und das Licht leuchtet in der Finsternis... Nun hast du wieder durch Stunden den eisigen Boden aufgehackt, nun ist gerade wieder der Wachtposten vorübergekommen, um dich ein wenig zu höhnen, und nun fängst du wieder an, Zwiesprache zu halten mit dem geliebten Wesen. Immer mehr fühlst du, es sei anwesend, spürst du: sie ist da. Du glaubst, nach ihr greifen zu können, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um ihre Hand zu fassen. Ganz stark überkommt dich das Gefühl: sie – ist – da! Da – im gleichen Augenblick – was ist das? Lautlos ist ein Vogel herbeigeflattert und läßt sich unmittelbar vor dir nieder, auf den Erdschollen, die du aus dem Graben geschaufelt, und äugt dich unverwandt und regungslos an...
Kunst im KZ
Wir sprachen vorhin von Kunst. Kunst im Konzentrationslager, gibt’s das auch? Je nach dem freilich, was man Kunst nennt. Immerhin, von Zeit zu Zeit gab es auch improvisierte Kabarettveranstaltungen. Eine Baracke wird vorübergehend geräumt, ein paar Holzbänke werden zusammengeschleppt oder zurechtgezimmert und ein »Programm« zusammengestellt. Und am Abend kommen die, die es im Lager verhältnismäßig gut getroffen haben, z.B. die Capos oder Lagerarbeiter, die nicht zu Außenkommandos hinausmarschieren müssen; sie kommen, um ein wenig zu lachen oder zu weinen, auf jeden Fall: ein wenig zu vergessen. Ein paar Lieder, die gesungen werden, ein paar Gedichte, die aufgesagt werden, ein paar Späße, die gemacht werden, auch mit satirischer Tendenz in bezug auf das Lagerleben, dies alles soll vergessen helfen. Und es hilft! Es hilft sogar so sehr, daß die vereinzelten nichtprominenten, gewöhnlichen Lagerhäftlinge, die sich trotz des Tages Mühen ins Lagerkabarett begeben, es in Kauf nehmen, daß sie dadurch die Suppenausteilung versäumen.
Wer eine wirklich gute Stimme hatte, den mußte man nicht wenig beneiden: In der halbstündigen Mittagspause etwa, in der noch, zur ersten Zeit unseres Lageraufenthalts, auf dem Arbeitsplatz Suppe ausgegeben wurde (welche die Baufirma bezahlen mußte und sich daher nicht viel kosten ließ), in dieser Mittagspause durften wir uns in einer noch nicht fertiggebauten Maschinenhalle versammeln; beim Eintritt bekam jeder einen Schöpflöffel voll Wassersuppe. Während wir sie aber begierig schlürften, stieg ein Kamerad auf ein Faß und sang uns italienische Arien vor. Hatten wir den musikalischen Genuß, so hatte er eine garantierte Doppelportion Suppe, und zwar »von unten«, das heißt: sogar mit Erbsen.
Lohn gab es im Lager aber nicht nur für Kunst, sondern auch – für Beifall. Ich zumindest hätte – glücklicherweise wurde es nicht nötig – bei jenem Capo Protektion gehabt, der wohl der gefürchtetste im Lager war und, sicher aus mehr als einem Grunde, allgemein den Namen »Mörder-Capo« führte. Und warum? Eines Abends wurde mir die unglaubliche »Ehre« zuteil, in dieselbe Ubikation eingeladen zu werden, in der die oben besprochene spiritistische Séance stattgefunden hatte. Wieder gab es ein Plaudern in einer intimen Gesellschaft des Oberarztes (der selber Häftling war) und wieder in der höchst illegalen Anwesenheit des Sanitätsunteroffiziers. Als nun der Mördercapo zufällig den Raum betrat, bat man ihn, doch einmal eines seiner Gedichte zum besten zu geben, deren Ruhm schon weit ins Lager gedrungen war. Er ließ sich nicht zweimal bitten und brachte eine Art Tagebuch herbei. Daraus begann er dann Proben seiner Dichtkunst vorzutragen. Daß ich nun beim Anhören eines seiner Liebesgedichte nicht in Lachen ausbrach, kostete mich zwar wundgebissene Lippen, rettete mir aber wohl das Leben; daß ich jedoch darüber hinaus mit Beifall nicht geizte, das hätte mir sogar das Leben gerettet, wenn ich seinem Arbeitskommando zugeteilt worden wäre – es war dies vorher nur ein einzigesmal, für einen einzigen Tag geschehen, und ich hatte schon von diesem einen Mal genug... Für alle Fälle war es aber gut, dem Mördercapo in günstigem Sinne nicht unbekannt zu sein. So klatschte ich also in die
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