Trügerische Ruhe
Schritt hielt sie inne, um wieder zu horchen. Als sie schließlich oben war, waren ihre Handflächen so naßgeschwitzt, daß sie sie an ihrer Bluse abwischen mußte, bevor sie die Kellertür öffnen konnte.
In der Küche brannte Licht, und alles wirkte verblüffend normal. Sie hätte fast glauben können, das Grauen der letzten Nacht sei nur ein Alptraum gewesen. Eine Uhr an der Wand tickte laut. Es war fünf Uhr morgens, und draußen war es noch dunkel.
Sie ging auf Zehenspitzen zur Küchentür und spähte in den Flur. Ein flüchtiger Blick auf die zersplitterten Möbel und die Blutspritzer an der Tapete sagte ihr, daß sie nicht geträumt hatte. Ihre Handflächen waren wieder schweißnass.
Der Flur war verlassen, und die Haustür stand offen.
Sie mußte raus aus dem Haus. Zu den Nachbarn laufen, zur Polizei.
Sie begann den Flur entlangzugehen. Jeder Schritt brachte sie der Flucht näher. Der Schrecken hatte ihre fünf Sinne so geschärft, daß sie jeden Holzsplitter auf dem geblümten Teppich, jedes Ticken der Uhr hinter sich wahrnahm. Sie hatte die Haustür fast erreicht.
Dann war sie am Treppenpfeiler vorbei und blickte auf die Treppe, wo ihre Mutter kopfüber hingefallen war. Sie konnte den Blick nicht von der Leiche wenden. Von ihrem langen Haar, das über die Stufen herabfloß wie schwarzes Wasser.
Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf; sie riß sich los und stürzte zur Haustür.
Da stand er. In der Hand hielt er eine Axt.
Mit einem Schluchzen drehte sie sich abrupt herum und rannte die Treppe hoch, wobei sie fast auf dem Blut ihrer Mutter ausgerutscht wäre. Sie hörte, wie er hinter ihr polternd die Stufen erklomm. Sie war immer schneller gewesen als er, und in ihrer Panik flog sie die Treppe hoch wie eine aufgeschreckte Katze.
Im oberen Flur erblickte sie für einen Moment die Leiche ihres Vaters; sie ragte zur Hälfte aus der Türöffnung zum Schlafzimmer hervor. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, das grauenhafte Geschehen auf sich wirken zu lassen; schon eilte sie die nächste Treppe hoch und erreichte das Turmzimmer.
Sie schlug die Tür zu und legte gerade noch rechtzeitig den Riegel vor.
Er brüllte wütend auf und begann an die verschlossene Tür zu hämmern.
Sie lief zum Fenster und riß es hastig auf. Als sie tief unten den Boden erblickte, war ihr klar, daß sie einen Sturz nicht überleben würde. Aber es gab keinen anderen Ausweg aus dem Zimmer.
Sie riß an einem Vorhang, zog ihn von der Schiene. Ein Seil. Ich muß ein Seil machen. Sie band ein Ende an ein Heizungsrohr, zog einen weiteren Vorhang herunter und verknotete die beiden Stoffbahnen.
Ein lautes Krachen, und ein Holzsplitter flog auf sie zu. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah zu ihrem Entsetzen die Spitze der Axtklinge durch die Tür ragen – sah, wie die Axt herausgezogen wurde, bereit zum nächsten Schlag.
Er brach die Tür auf!
Sie riß einen dritten Vorhang herunter und knotete ihn mit zitternden Händen an die beiden anderen.
Die Axt sauste erneut nieder. Das Türblatt spaltete sich noch tiefer, und wieder sausten Splitter durch die Luft.
Sie riß den vierten Vorhang herunter, doch während sie noch verzweifelt den letzten Knoten knüpfte, wußte sie schon, daß das Seil nicht lang genug war. Sie wußte, es war zu spät.
Sie wirbelte herum und sah gerade noch, wie die Axt die Tür durchbrach.
1
Die Gegenwart
»Irgendwer wird sich da draußen noch verletzen«, sagte Dr. Claire Elliot, während sie aus ihrem Küchenfenster blickte. Der Morgennebel lag dicht wie Rauch über dem See, und die Bäume vor ihrem Fenster waren bald deutlich, bald nur unscharf zu erkennen. Wieder krachte ein Gewehrschuß, diesmal aus größerer Nähe. Seit dem ersten Tageslicht hatte sie das Gewehrfeuer gehört, und sie würde es wahrscheinlich den ganzen Tag bis zur Dämmerung hören, denn es war der erste November – der Beginn der Jagdsaison. Irgendwo in diesen Wäldern stapfte ein Mann mit einem Gewehr halbblind durch den Schnee, während schemenhafte Trugbilder von weißschwänzigen Hirschen um ihn herumtanzten.
»Ich finde, du solltest nicht draußen auf den Bus warten«, sagte Claire. »Ich fahre dich zur Schule.«
Noah, der vornübergebeugt am Frühstückstisch saß, sagte nichts. Er nahm noch einen Löffel voll Cheerios und verschlang sie schlürfend. Vierzehn Jahre alt, und immer noch aß ihr Sohn wie ein Zweijähriger; verkleckerte die Milch über den ganzen Tisch und übersäte den Boden mit
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