Trügerische Ruhe
Fünfundvierzigjährigen, freud- und fruchtlos vorüberrauschte. Er wollte Doreen mit Anstand begegnen, und er wünschte sich etwas von der alten Zuneigung zurück, die er in den ersten Jahren ihrer Ehe für sie empfunden hatte, als sie noch charmant und nüchtern gewesen war und nicht die wutschnaubende Alkoholikerin, die er jetzt vor sich hatte. Manchmal forschte er in seinem Herzen nach irgendwelchen Spuren der Liebe, die dort noch verborgen sein mochten, nach irgendeinem kleinen Funken in der Asche, doch da war nichts mehr. Die Asche war kalt. Und er war müde.
Er hatte versucht, zu ihr zu stehen, aber Doreen war sich einfach selbst im Weg. Alle paar Monate, wenn der Zorn in ihr wieder einmal überkochte, verbrachte sie den ganzen Tag mit Trinken. Dann »borgte« sie sich von irgendwem ein Auto und veranstaltete eines ihrer berüchtigten Hochgeschwindigkeitsrennen. Die Leute in der Stadt blieben schon vorsichtshalber den Straßen fern, wenn Doreen Kelly sich hinters Steuer setzte.
Als sie wieder auf der Wache waren, überließ Lincoln es Floyd, das Protokoll zu schreiben und Doreen einzusperren. Durch die zwei verschlossenen Türen, die zur Zelle führten, konnte er hören, wie sie nach einem Anwalt schrie. Er sollte ihr wohl einen besorgen, dachte er, obwohl sich sicherlich niemand in Tranquility ihrer annehmen wollte. Selbst in Bangor unten im Süden hatte sie schon allen Kredit verspielt. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, seinen Visitenkarten-Computer nach einem Anwalt zu durchforsten. Einen, den er schon eine Weile nicht mehr angerufen hatte. Einen, dem es nichts ausmachte, von einem Klienten mit Flüchen bombardiert zu werden.
Es war alles zuviel und zu früh am Morgen. Er schob den Computer von sich und fuhr mit der Hand durch sein Haar. Im Hinterzimmer schrie Doreen immer noch. All das würde in dieser vorwitzigen Gazette zu lesen sein, und dann würden es die Zeitungen in Bangor und Portland aufgreifen, weil der ganze verdammte Staat Maine es so komisch und so ausgesprochen kurios fand. Polizeichef von Tranquility verhaftet eigene Frau – nicht zum erstenmal.
Er griff nach dem Telefon und wählte gerade die Nummer von Tom Wiley, Rechtsanwalt, als es an seiner Tür klopfte. Er blickte auf und legte den Hörer nieder, als er Claire Elliot hereinkommen sah.
»Hallo, Claire«, sagte er. »Haben Sie inzwischen ihre Sicherheitsplakette?«
»Ich arbeite noch dran. Aber ich bin nicht wegen meines Wagens hier. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Sie legte einen schmutzigen Knochen auf seinen Schreibtisch.
»Was ist das?«
»Es ist ein Femur, Lincoln.«
»Was?«
»Ein Oberschenkelknochen. Und zwar ein menschlicher, wie ich glaube.«
Er starrte den dreckverkrusteten Knochen an. Ein Ende war abgebrochen, und der Schaft wies Spuren von Tierzähnen auf.
»Wo haben Sie den gefunden?«
»Draußen bei Rachel Sorkin.«
»Und wie ist Rachel da drangekommen?«
»Elwyn Clydes Hunde haben ihn in ihren Vorgarten geschleppt. Sie weiß nicht, wo sie ihn herhaben. Ich war heute morgen dort, nachdem Elwyn sich in den Fuß geschossen hatte.«
»Schon wieder?« Er verdrehte die Augen, und beide lachten. Wenn es in jedem Dorf einen Dorftrottel gab, dann war Elwyn der von Tranquility.
»Es geht ihm schon wieder besser«, sagte sie. »Aber ich nehme an, daß eine Schußverletzung gemeldet werden sollte.«
»Betrachten Sie es als erledigt. Ich habe schon eine ganze Akte über Elwyn und seine Schußverletzungen.« Er wies auf einen Stuhl. »Jetzt erzählen Sie mir von diesem Knochen. Sind Sie sicher, daß er von einem Menschen stammt?«
Sie setzte sich. Obwohl sie einander direkt in die Augen sahen, spürte er eine fast physische Barriere der Zurückhaltung zwischen ihnen. Er hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen, als Claire, kurz nachdem sie in die Stadt gekommen war, in Tranquilitys aus drei Zellen bestehendem Gefängnis einen Insassen mit Magenschmerzen behandelt hatte. Lincoln hatte sich von Anfang an für sie interessiert. Wo war ihr Mann? Warum zog sie ihren Sohn alleine groß? Aber ihm war nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, ihr persönliche Fragen zu stellen, und ihr Verhalten ließ eine solche Einmischung auch nicht eben geraten erscheinen. Freundlich, aber ausgesprochen in sich zurückgezogen, war sie offenbar nicht gewillt, irgend jemanden an sich heranzulassen, was wirklich schade war. Sie war eine attraktive Frau, nicht groß, aber von kräftiger Statur, mit leuchtenden
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