TS 53: Alle Zeit der Welt, Teil 1
ungefähre Parallele aus der fernen Geschichte der Erde fiel Sam ein. In einem der ungezählten Bücher, die er gelesen hatte, war er auf eine Theorie gestoßen, wonach die Mongolenstürme die Kulturen, über die sie hinweggebraust waren, in einer Weise bis auf die Wurzeln zerstört hatten, daß sich diese Länder niemals wieder auf ihre Initiative besonnen hatten. Die Fähigkeit, sich durch bedeutende Leistungen im Wettbewerb mit anderen Völkern zu messen, war ihnen verlorengegangen.
Dasselbe mochte auf Robin Hale zutreffen. Vielleicht war während der wilden Jahre, in denen er zusammen mit den Freien Trupps gekämpft hatte, seine Lebenskraft allmählich erloschen. Alles Wissen, alle Reife und alle Erfahrungen nutzten ihm nichts, weil ihm die anspornende Energie fehlte, sie zu verwerten.
Diese Tatkraft zeichnete Sam in überreichem Maße aus. Und plötzlich dachte er daran, daß unter allen lebenden Menschen er sie vielleicht allein besaß. Hale mangelte der Wille, seinem Dasein einen Inhalt zu geben. Und die Energie der übrigen Unsterblichen richtete sich auf die Bewahrung des Erreichten.
„Wenn wir warten, bis die Familien handeln, werden wir niemals zu greifbaren Ergebnissen gelangen“, bemerkte er überlegend.
„Natürlich nicht“, erwiderte Hale ruhig. „Vielleicht ist es bereits zu spät.“
Sam beachtete seine Antwort überhaupt nicht.
„Die Harkers glauben, sie wären im Recht“, kleidete er die Erkenntnis in Worte, die ihm mit plötzlicher Klarheit dämmerte. „Aber sie stemmen sich gegen jeden Wandel. Sie werden weiter warten, bis selbst ihnen aufgeht, daß sie zu lange gewartet haben. Vielleicht sind sie dann insgeheim froh, daß es zu spät zu wirksamem Handeln ist. Die Führungsschicht denkt immer konservativ. In ihren Augen wirkt sich jede Veränderung nachteilig aus.“
„Das trifft für die breite Masse ebenso zu“, entgegnete Hale. „Was können wir ihnen als Ausgleich für das bieten, was sie bereits besitzen? Behagen, Sicherheit, Vergnügen, ein Leben, das in geordneten Bahnen verläuft. Hier oben wartet außer Gefahren und Mühen nur die Aussicht auf sie, daß ihre Nachfahren vielleicht in einigen hundert Jahren eine Zivilisation an Land aufbauen können, wie sie unter Wasser bereits besteht. Selbst wenn sie einsähen, daß ein Wandel eintreten muß, würden sie selbst niemals die Früchte ihrer Arbeit ernten.“
„Sie haben Ihrem Vorhaben aber schon einmal zugejubelt“, warf Sam ein, „damals, als mein Vater für die Eroberung der Dschungel warb.“
„Sicher, weil auch in den Kuppeln Unzufriedenheit herrscht. Sie spüren, daß sie etwas verlieren. Aber von Abenteuern zu schwärmen und selber Gefahren zu bestehen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Diesen Leuten fehlt der Schwung. Pioniere werden zu Pionieren, weil bei ihnen zu Hause unerträgliche Zustände herrschen oder weil anderswo vielversprechendere Aussichten locken. Das Fortbestehen der Menschheit, um das es sich hier dreht, geht über ihren Horizont.“
Sam runzelte die Stirn.
„Das Fortbestehen der Menschheit?“ wiederholte er.
„Ich habe mich so oft darüber ausgelassen, daß ich bald schon davon rede, wenn ich nur den Mund öffne“, antwortete Hale. „Wenn die Kolonisierung der Venus jetzt nicht einsetzt, wird sie niemals ihren Anfang nehmen. Die Energiequellen und der Lebenswille werden langsam schwinden, und binnen einigen Jahrhunderten endet der Weg der Menschheit in den Kuppeln. Trotzdem widersetzen sich die Familien jedem meiner Vorschläge und beharren starrsinnig auf ihrem Standpunkt, bis es am Ende zu spät ist.“ Hale zuckte die Achseln. „Man hat mir erklärt, das Denken in solchen Begriffen wäre überholt.“
Sams Blick wich nicht von ihm, während er sprach. Seine Worte klangen überzeugend. Er glaubte Hale. Sich über die Bestimmung der Menschheit den Kopf zu zerbrechen, dazu war er noch nicht imstande, aber seine eigene Unsterblichkeit verlieh den kommenden Jahrhunderten ihre Bedeutung für ihn. Zudem hatte er noch eine Rechnung mit den Harkers zu begleichen. Und schließlich bot Hales Vorhaben nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, wenn ein Mann vom Schlage Sam Reeds die Durchführung in die Hand nahm.
„Mein Besitztitel gehört Ihnen“, sagte er kurz. „Und nun hören Sie zu …“
28.
Robin Hale schloß die Terrassentür des Verwaltungsgebäudes hinter sich und ging allein den Weg hinunter, der vor ihm lag. Über ihm brach die Sonne durch das Gewölk, erhellte den
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