Tschoklet
Hoffnung, hier wieder lebend herauszukommen.
Roebuck versuchte gleichzeitig, oben auf der rutschigen Platte einen Halt zu finden, doch er wurde mit seiner Freundin zusammen immer weiter in den Schacht gezogen. Wenn auch nur in Zeitlupe, es ging stetig abwärts.
Leider hing Harrison in einer sehr ungünstigen Position. Christine malträtierte von oben die rechte Schulter, er selbst hing in Schräglage, mit den Fußspitzen auf einem glitschigen Absatz, und bettelte um sein Leben.
Die zwar genähte, doch kaum verheilte Schusswunde platzte nun endgültig auf und vermehrte den Blutverlust. Er konnte den Arm schließlich nur noch zitternd herunterhängen lassen. Er fühlte, wie sein Leben dahinschwand. In diesem Moment erinnerte er sich plötzlich an seinen Vater, der ihm stolz ein Zigarre reichte und diese sogar für ihn anzündete. ›Mein Sohn, du wirst einmal Polizeichef! Wir sind so stolz auf dich!‹, echote es in seinen Ohren. Immer wieder. Immer leiser. Eine unbarmherzige, kalte Hand griff nach seinem Körper und seinem Herzen. Warmes Blut tropfte von seinen Fingern in die ölige, schwarze Leere. Gleichzeitig drückte der Schuh des Mädchens mit dem Absatz gegen seine Rippen, wodurch die beschädigte Milz nun auch noch ein Stückchen weiter aufriss.
Sein mit Blut gefüllter Bauchraum gab hinter dem Nabel nun endgültig nach, der rote Lebenssaft ergoss sich durch den Riss des Bauchfells schlagartig in seinen Darm, was zu einem akuten Schock und sofortigem Herzstillstand führte.
Der Griff um Christines linkes Bein lockerte sich urplötzlich. Ein leises »Edwards …!!« drang aus dem Schacht heraus. Dann fiel der leblose Körper ein paar Meter tief in die Mischung aus Asche, Öl, Wasser und Steinkohle. Fast geräuschlos tauchte Chuck Harrison in die breiige Flüssigkeit ein. Die träge, schwarze Brühe schloss sich glucksend über seinem Kopf. Der Deserteur war nur noch Geschichte.
Roebuck fühlte die plötzliche Entlastung in seinen Armen deutlich. Er griff sofort nach und zog das nur noch leise wimmernde Mädchen zu sich heran, gleichzeitig hangelte er sich an dem rutschigen Ledergurt seiner Maschinenpistole nach oben.
Wenige Minuten später lagen sie erschöpft und eng umschlungen unter der stinkenden Dampflokomotive. Öliges Wasser tropfte ihnen von oben auf die Gesichter, aber das war nun auch egal. Christine weinte, zitterte am ganzen Körper, seufzte tief und presste sich eng an ihren amerikanischen Freund. Er streichelte ihr zärtlich über die stacheligen, blonden Haare und küsste sie vorsichtig auf die noch unversehrte Nase. Dann flüsterte er in fast akzentfreiem Deutsch: »Ich liebe dich!«
Kapitel 31
Sonntag, 3. Juni 1945
»Scout Squad stillgestanden! Technical Specialist Piece, Sergeant Roebuck und Träger des Silver Star, Corporal Jonas, eintreten! Scout Squad rührt euch! Weggetreten!«
›Der Rhein darf nicht mehr ein Graben sein … der Rhein muss ein Bindeglied zwischen all dem sein, was beiderseits seiner Ufer groß und stark ist.‹
(General Charles de Gaulle, 1946)
Epilog
5. Juni 1945
Die Alliierten Besatzungsmächte USA, Großbritannien, die Sowjetunion und Frankreich vereinbaren die Einrichtung von Zonen im besiegten Deutschland. Durch die Nähe zur französischen Zone gerät das nun amerikanische Karlsruhe in eine sehr ungünstige ›Abseitsposition‹, durch die Karlsruhe später auch den Titel der Landeshauptstadt verliert. Die vorher durchgängige französische Zone zwischen Nordbaden und der Südpfalz ist nun geteilt.
14. Juni 1945
Christine kann ihre Tante in den Karlsruher Krankenhäusern nicht finden und meldet sie als vermisst. Nach zehn Tagen im Krankenhaus kehrt sie zurück nach Ketsch zu ihrem Vater.
1. Juli 1945
Alain Barricourt, der ehemalige Kommandant der französischen Polizei in Deutschland, bekommt post mortem für seine Verdienste am Vaterland den ›Nationalorden der Ehrenlegion‹ verliehen.
7. Juli 1945
Die Franzosen verlassen Karlsruhe in Richtung Rastatt gemäß der Vereinbarung.
8. Juli 1945
Die US-Armee besetzt die Stadt. Vor der Hauptpost auf dem Lorettoplatz findet mittags eine feierliche Amtsübernahme statt.
9./10. Juli 1945
Die Amerikaner beschlagnahmen rund 2.000 Wohnungen für die Unterbringung des Offizierskorps und ihrer Stäbe.
ab 15. Juli 1945
Die ersten amerikanischen Einheiten übernehmen offiziell die Rheinkaserne in Knielingen, die Grenadierkaserne an der Kaiserallee, die General-Forstner-Kaserne in Neureut und
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