Tu dir weh
›Den-Andern-Sehens‹«, sagt der Professor.
»Eh, verstehst du den?«, fragt das Mädchen mit dem pinkfarbenen Pony, das neben Stella sitzt.
»Ehrlich gesagt, nein«, antwortet sie und greift sich an den BH, wo das Tütchen Koks versteckt ist.
»Wie soll man sich bloß auf diese Prüfung vorbereiten?«
»Tina, ich hab’ keine Ahnung, ich glaub, ich gehe nachher mal in seine Sprechstunde.«
Der Professor hüstelt, hört auf zu reden, hebt den Blick und sucht die Plätze, wo das Getuschel herkommt. Alle drehen sich um. Stellas Banknachbarin tuschelt noch weiter. »Später «, bedeutet Stella mit den Lippen .
Es sind noch vierzig Minuten bis zum Ende der Vorlesung. Der Professor knallt das Buch so laut aufs Pult, dass es im ganzen Hörsaal widerhallt. Dann wirft er zum Ausdruck seines Ärgers die Arme in die Luft, starrt ins Leere und verlässt schließlich den Hörsaal.
Jemand sagt: »Schau sich einer das an! Und wir sind extra für seine Vorlesung hergekommen.«
»Und ich komme von außerhalb. So was kann er doch nicht bringen!«, wirft ein anderer Typ ein.
Philosophie ist ein bisschen wie das Leben: Wenn du deinen Arsch nicht hochkriegst, wirst du einen Dreck verstehen.
Stella entzieht sich Tinas Geplapper, indem sie aufsteht und den Saal verlässt. Sie folgt dem Professor, er geht auf seinen Stock gestützt, versucht trotzdem sich zu beeilen. Stella sieht, wie er stolpert – erst jetzt bemerkt sie, dass er hinkt. Der Flur riecht nach Zigaretten. Gruppen von Studenten drängen sich auf den Fluren, denBänken, stellen sich unter das Schild Rauchen verboten und rauchen.
Der Professor steigt die Treppe hinunter in den ersten Stock.
»Entschuldigung«, sagt sie mit kaum hörbarer Stimme.
Er sieht sie leicht schielend an, zieht die weißen Augenbrauen hoch, kräuselt die Stirn, ein Meer von Falten.
»Verzeihen Sie, Herr Professor, es tut mir leid, dass Sie den Unterricht nicht beenden konnten.«
Der Professor zuckt mit den Schultern.
»Wenn es euch nicht interessiert ...«
»Tatsächlich haben wir über den Unterricht geredet, wir hatten Verständnisschwierigkeiten.«
Er geht in seinen Raum, winkt Stella herein und bittet sie, Platz zu nehmen. Er setzt sich hinter den Schreibtisch. Sie tritt zögernd ein. Es riecht nach Papier, nach alten Büchern, nach vergilbten Seiten, die tausendmal durchgeblättert worden sind. Zwei melancholische Bilder an den Wänden zeigen Schiffbrüchige. Ein schwacher Lichtstrahl dringt durch das Fenster, erhellt mühsam die über den Tisch verstreuten Blätter und die linke Seite des Jacketts des Professors.
»Ich habe Schwierigkeiten mit der Terminologie«, erklärt sie mit leiser Stimme.
»Ihr denkt also, dass ich mich kompliziert ausdrücke?« Der Professor gestikuliert mit der linken Hand, während er mit der rechten einen ledergebundenen Notizkalender durchblättert. »Nun, so rede ich eben, es ist an euch, sich an meine Ausdrucksweise zu gewöhnen.«
Stella nickt. Fühlt, wie das Tütchen Koks an ihrer Brust scheuert. Der Professor schaut auf ihren Ausschnitt.
Gott, kann er etwa das Tütchen sehen?
Das Telefon klingelt. Der Professor dreht sich nach dem Apparat um. Sie nutzt den Moment und fühlt nach, ob das Tütchen noch so in ihrem BH steckt, wie es soll.
»Aus welchem Grund studieren Sie Philosophie?«, fragt er, nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hat. Seine Augen wandern von ihrem Ausschnitt zurück zu ihrem Gesicht.
Was weiß ich. Weil ich nichts anderes kann als denken?
»Ich?« Sie zuckt zusammen. »Ich habe Nietzsches ›Zarathustra‹ gelesen, und seine Lehre hat mir sehr gefallen: Nihilismus, der Wille zur Macht, die Kritik an der westlichen Gesellschaft und das alles.«
Der Professor schüttelt langsam den Kopf, die runzligen Ränder seiner Wangen sehen traurig aus.
»Sie müssen den tiefen, inneren Grund suchen, weshalb Sie sich entschieden haben, Philosophie zu studieren. Wir alle haben Gründe. Sobald Sie Ihre Wahrheit finden, den Grund, warum Sie diese Reise in das menschliche Bewusstsein unternehmen wollen, dann und nur dann, werden Sie in der Lage sein, die Bedeutung der Worte zu verstehen. Und Sie werden mühelos ›Das Sein und das Nichts‹ lesen können.«
Na prima: Um die Prüfung zu bestehen, muss ich mich erst einer Psychoanalyse unterziehen.
Sie bedankt sich und geht. Alle fünf Minuten prüft sie ihren BH, nicht dass sie das Koks zu guter Letzt noch auf der Straße verstreut. Am Ende vielleicht sogar vor einem der illustren
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