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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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gibt, ... nach sechs Jahren ...
    Auf einer wilden Müllkippe haben wir alles gefunden. Alte Türen und jede Menge Bretter. Und irgendwie haben wir es geschafft, uns daraus eine Hütte zusammenzunageln. Tief versteckt im Tannenwald. Sie ist klein, die Hütte. So klein, dass niemand außer uns hineingepasst hätte. Und jetzt reicht sie gerade noch für mich allein.
    Ich weiß nicht, was mich immer noch hierher zieht. Die Packung hab ich schließlich noch in meinem Kleiderschrank. So weit ist es noch nicht. Es hat noch nicht gereicht. Der Tag heute hat mich noch nicht umgebracht. Gibt es irgendwo einen Schutz für meine verdammte Lindenblattstelle?
    Vielleicht ist es gut, dass Laura weg ist. Dass niemand mehr da ist. Dass ich allein klarkommen muss.
    Bloß, was tue ich in der Nacht? In der Nacht, wenn die Gespenster kommen, wenn sie mich packen, wenn mir der Angstschweiß den Rücken hinunterläuft, wenn ich keine Luft mehr bekomme, wenn ich mich nicht mehr retten kann, wenn nur Lauras Hände auf meinem Rücken mich retten können? Die einzige Medizin, die einzige Therapie, die ge hol fen hat. Ich habe mich zu Laura ins Bett gelegt, einfach so, so wie ich mich früher zu ihr gelegt habe. Laura hat mir den Rücken gestreichelt. Schon in der ersten Nacht. Nachdem sie gegangen war.
    Was tue ich in diesen Nächten?
    Die alten Mittel? Noch lagern sie alle im Küchenschrank. Die roten, blauen, weißen Pillen. Die Beruhigungstees in allen Mischungen. Kein einziges dieser Mittel hat wirklich geholfen.
    Ich krieche in den Schlafsack und lege mich auf die Bretter. Drei Teelichter flackern. Sie haben Mühe zu überleben. Die Dochte sind mal wieder zu schwach.
    Es ist seltsam still im Wald. Trotz der Geräusche. Ein Rascheln hier und da, ein Knacken. Das Gurren von wilden Tauben. Das Klopfen eines Spechts. Der Ruf des Käuzchens. Aber die Geräusche des Waldes fürchte ich nicht. Nicht wirk lich. Die hab ich nie gefürchtet. Aber damals war ich auch nicht allein ...
    Er kam kurz nach meinem Geburtstag. Ich war gerade fünf.
    Und er kam gleich zu uns in die Puppenecke. Den Bauteppich hat er gemieden wie ich. Da gab es jedes Mal die Kämp fe mit Boris und Dennis. Das waren die Bosse des Fuhrparks, der Hochgarage, der Autobahn, des Piratenschiffs, der Ritter burg. Boris und Dennis waren einen Kopf größer als wir und stark. Sie waren schon sechs. Und im Judoverein.
    Steffen war kleiner als ich und viel, viel dünner. Er hatte irgendeine Krankheit. Ich habe nie genau begriffen, was es war. Er war ja nicht richtig krank, lag nicht im Bett mit Fieber und so. Er durfte nur nicht alles essen und trinken. Keine Süßigkeiten, keine normale Milch. Stoffwechselstörung nann te sich seine Krankheit.
    Er war anders als alle. Auch anders als ich.
    Ich weiß nicht, wie es passierte.
    Aber es passierte. Schon als er das erste Mal unseren Grup penraum betrat.
    Es war ein kalter, grauer Tag. Novemberwetter mit Nieselregen. Ein Tag für Kissen, warme Höhlen und heißen Kakao. Er betrat den Raum. Und mir wurde warm. Der nieselige graue Himmel hatte sich plötzlich in leuchtendes Blau verwandelt. In eine Farbe, so klar wie der Himmel über Go me ra. Seine Jeans, sein Pulli, seine Schuhe, ja sogar die kleine, runde Brille. Alles eingetaucht in dieses phantastische Him mel blau. Dieser Junge sah so aus, als würde er sich niemals schmutzig machen, nie ein Loch in die Hose reißen. Dieser Junge würde sich niemals prügeln. Zerbrechlich sah er aus und blass. Er trug die Haare länger als wir. Lange dunkel brau ne Locken umrahmten sein schmales Gesicht.
    Er betrat den Raum. Seine großen braunen Augen schauten verträumt durch das Zimmer. Dann starrte er aus dem Fens ter. Die kleinen Hände umklammerten einen weißen Hasen aus Plüsch.
    An diesem ersten Morgen sagte er kein Wort. Er beobach tete uns still. Dennis und Boris ließen ihn in Ruhe. Und mir wurde sonderbar warm. Immer wenn ich ihn anschaute.
    Er redete wenig. Und wenn er redete, dann hatte man Mühe, ihn zu verstehen. Er sprach undeutlich, nuschelte, lispelte. Und er sprach leise. Aber er hatte dieses besondere Lächeln. Als käme er aus einer anderen Welt.
    Ich habe seine Nähe gesucht. Und er suchte meine Nähe. Er half mir beim Kochen, auch beim Umkleiden der Puppen. Und dann, irgendwann, hat er angefangen, Höhlen zu bauen. Aus Tüchern, Decken und Kissen. Das Höhlenbauen wurde unser Spiel. Jeden Morgen nach dem Frühstück. Nach den Nutella- und Vollkornbroten mit Pfefferminztee. Es war

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