Turils Reise
mich zuallererst führen?«, fragte er das Fünkchen.
»Wir haben erfahren, dass du niemals zuvor auf Domiendram warst.« Das Fünkchen zügelte seine Brandlust. Das Feuer seiner Flügel wechselte von rot zu gelb. Es dachte angestrengt nach. »Wir verlassen das Hofkastell«, sagte es schließlich, »und unternehmen einen Spaziergang durch die Altstadt. Wir meinen, dass dir das Nekromantion gefallen könnte.«
»Das Nekromantion?« Turil beugte sich vor.
»Das Totenorakel. Es begründete die Erbfolge unserer Könige. Seine Ruhestätte liegt tief in den Katakomben unter der Stadt verborgen. Es lebt an einem abgeschiedenen Ort, der den wenigsten Domiendramern zugänglich ist.«
»Ich bin … interessiert.« Der Thanatologe bemühte sich, seine Stimme nicht allzu gelangweilt klingen zu lassen.
»Dann lass uns gehen«. Das Fünkchen kicherte. »Oder fliegen.« Es schlug eifrig mit den Filigranflügeln und vollführte übermütig einen Looping, bevor es voranflatterte, wobei es eine dünne, kaum erkennbare Rauchfahne hinter sich herzog.
»Wie lange darfst du leben?«, fragte Turil.
»Dreißig Standardstunden.« In den ausdrucksvollen Augen des Fünkchens glitzerte es. »Ganz schön lange, nicht wahr?«
»Ich gratuliere.« Dreißig Stunden. So viel Zeit gestand man dem Totengräber also zu, sich auf Domiendram umzusehen und sich auf seine Aufgabe einzustimmen.
Sie verließen das Hofkastell durch das große Haupttor. Das blendende Licht der untergehenden Sonne Remigard empfing sie, und eine entsetzliche Schwüle. Turil schaltete die Schutzfunktionen seines Mantels ein. Augenblicklich umfächelte ihn kühlende Luft, und der Sauerstoffgehalt wurde so weit heruntergefahren, dass er sich wohlfühlte.
»Chalasim wurde vor über fünftausend Jahren als erste Siedlung auf Domiendram gegründet«, sagte das Fünkchen im gelangweilten Ton eines professionellen Fremdenführers. Sicherlich bezog es sein Wissen aus einer der offiziellen Info-Seiten des Planeten. »Das Wie und Warum der Stadtgründung blieb trotz umfangreicher Forschungsarbeiten weitgehend ungeklärt; wie so vieles, das damals im Kahlsack geschah.« Es schwänzelte ungeduldig mit seinem plumpen Hinterleib. »Wenn du uns bitte schön folgen würdest. Der Zugang zu den ältesten Teilen der Stadt befindet sich unweit von hier, unter dem Kathustral der Seligkeit.« Leise brummend flog es vorneweg, geschickt den unzähligen Passanten auf der breiten, weiß marmorierten Freitreppe des Hofkastells ausweichend.
Turil folgte seinem kleinen Führer, hinab in die vor Leben sprudelnde Stadt. Beiläufig beobachtete er die Domiendramer. Die aus Holz und Fleisch gewachsenen Geschöpfe wirkten wie kleinere Ausgaben ihres Königs; sie waren meist kugelrund und zeigten ein ausdrucksvolles, von vielen
Maserungen durchzogenes Mienenspiel. Ihre Schritte waren steif, die langen Arme blieben stets in Bewegung und tasteten weit um sich. Wenn sie sich berührten - und das kam oft genug vor -, dann strichen die weichen Sprossenfingerchen zärtlich übereinander.
»Hier entlang, hier entlang!«, drängelte das Fünkchen.
»Ich komme.« Turil verstand die Eile des Kunstwesens. Ihm standen nur wenige Stunden zur Verfügung. Erfüllte es seine Lebensaufgabe nicht zufriedenstellend, würde es zutiefst gekränkt aufhören zu funktionieren. Das Gefühl der Schande würde sich auf seine Nachfolger übertragen und möglicherweise zu eingeschränkter Funktionalität bei folgenden Generationen führen.
Dennoch: Turil benötigte weitaus mehr als die vom Hof verordnete Sightseeingtour. Er musste ein Gefühl für die Domiendramer entwickeln; er musste sie verstehen, ihre Motive erkennen, ihr Seelenleben ergründen. Nur dann würde es ihm gelingen, das Todeszeremoniell so zu gestalten, dass man sich auch in Jahrhunderten noch daran erinnerte. Wie ihn diese Arbeit anödete …
Sie erreichten die Niederungen der Stadt. Hier drunten, abseits des märchenhaft schönen Palastes, erreichte die Betriebsamkeit ein ihm unangenehmes Niveau. Händler schwebten inmitten kleiner Wolken stickigen Dunstes und priesen laut krakeelend ihre Waren an; Genossenschafter eines Einkaufskonsortiums beklagten ebenso lautstark die überzogenen Preise und die sinkende Qualität der Waren. Zwei heimische Betbrüder der Apokalyxe flehten lautstark den Untergang allen Seins herbei, mehrere Bettler stritten sich um faulige Nährfrüchte, Damen und Herren des Dunklen Gewerbes boten ihre verholzten und narbendurchzogenen Leiber
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