Twig im Dunkelwald
»Was Ihr alles durchgemacht habt. Immer aufpassen, immer Angst haben müssen und immer in Gefahr sein. Aber das lässt sich ändern, Master Twig. Ergreift einfach meine Hand.«
Twig trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen. Polternd rollte eine Kaskade von Steinen in den Abgrund. »Sehe ich dann aus wie du?«, fragte er.
Der Schleimschmeichler warf den Kopf zurück und brach in lautes, freudloses Gelächter aus. »Aber habt Ihr denn nicht begriffen, mein kleiner Schlaumeier?«, rief er. »Ihr könnt aussehen, wie Ihr wollt. Wie ein tapferer Soldat, wie ein schöner Prinz … wie Ihr wollt.« Wieder säuselte er verführerisch. »Stellt Euch doch vor, Master Twig. Ihr könntet auch ein Kobold oder Troll sein.« Und während er sprach, zogen in Twigs Gedanken auf einmal eine Reihe von Gestalten vorüber, die er nur zu gut kannte. Da war der Kobold, der ihn aus der Kolonie der Honigkobolde geführt hatte, der Flachkopf, der ihn aus dem Sumpf gezogen hatte, und das Höhlenmännchen, das Mag das Bein gestellt und ihm den Weg nach draußen durch den Luftschacht gewiesen hatte.
»Oder wie wäre es damit?«, schnurrte der Schleimschmeichler. Twig starrte auf eine rotgesichtige Person mit feuerroten Haaren. »Habe ich Euch nicht sagen hören, Ihr würdet gern bei den Schlächtern bleiben? Oder vielleicht wärt Ihr lieber ein Banderbär.« Wieder wechselte er die Gestalt. »Groß, stark – niemand legt sich mit einem Banderbären an.« Er kicherte hämisch. »Außer natürlich den Wig-Wigs.«
Twig erschauerte. Das Monster, das vor ihm in der Luft hing, wusste aber auch wirklich alles.
»Ich weiß etwas noch Besseres!«, rief der Schleimschmeichler. Er verwandelte sich in ein untersetztes, braunhäutiges Wesen mit verknoteten Haaren und einer Knopfnase. »Ein Waldtroll. Ihr könntet nach Hause zurückkehren und wie die anderen leben. Wolltet Ihr das nicht schon immer?«
Twig nickte mechanisch.
»Ihr könnt sein, wer Ihr wollt, Master Twig«, sagte der Schleimschmeichler und nahm wieder seine eigene Gestalt an. »Ihr könnt hingehen, wo Ihr wollt, und tun, was Ihr wollt. Nehmt einfach meine Hand und alles steht Euch offen.«
Twig schluckte. Sein Herz klopfte heftig. Wenn es stimmte, was der Schleimschmeichler sagte, müsste er nicht mehr länger ein Außenseiter sein.
»Und denkt doch nur, was Ihr alles sehen werdet«, schnurrte der Schleimschmeichler. »Und wohin Ihr reisen könnt. Immer ändert Ihr Eure Gestalt und erscheint den anderen so, wie sie Euch sehen wollen. Keiner kann Euch etwas anhaben, Ihr hört alles, was die anderen sagen, Ihr seid ihnen immer einen Schritt voraus. Denkt an die Macht, die Ihr dann habt!«
Twig starrte auf die ausgestreckte Hand. Er stand jetzt ganz vorn am Felsrand. Langsam hob er den Arm. Der Arm streifte die Hammelhornweste, deren Haare sich aufstellten.
»Kommt«, sagte der Schleimschmeichler mit honigsüßer Stimme. »Macht noch einen Schritt und gebt mir Eure Hand. Ihr wollt es ganz sicher.«
Doch Twig zögerte. Er hatte im Dunkelwald nicht nur Schlimmes erlebt. Der Banderbär hatte ihm das Leben gerettet. Die Schlächter auch. Sie hatten ihm die Weste geschenkt, die im Hals der Bluteiche stecken geblieben war und deren Haare sich auch jetzt wieder aufgestellt hatten. Er dachte an sein Dorf und an Spelda, seine über alles geliebte Mutter, die ihn vom Tag seiner Geburt an geliebt hatte wie einen eigenen Sohn. Tränen traten ihm in die Augen.
Wenn er das verlockende Angebot des Schleimschmeichlers annahm, würde er nicht wirklich wie die anderen werden. Das Aussehen zählte ja nicht allein. Stattdessen war er dann das, was alle am meisten fürchteten: ein Schleimschmeichler. Nein, unmöglich. Er konnte nicht zu den Trollen zurückkehren, nie mehr. Er würde immer ein Außenseiter bleiben, anders als sie – und allein.
»Es ist die Angst, die uns davor zurückschrecken lässt, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen«, sagte der Schleimschmeichler. Er hatte Twigs Gedanken gelesen. »Kommt zu mir und Ihr braucht nie mehr Angst zu haben. Nehmt nun meine Hand und Ihr werdet es merken. Vertraut mir, Master Twig.«
Twig schwankte. War das wirklich das schreckliche Monster, vor dem alle Waldbewohnern sich so fürchteten?
»Habe ich nicht bisher immer zu Euch gehalten?«, fragte der Schleimschmeichler gekränkt.
Twig nickte wie in Trance.
»Außerdem«, fügte der Schleimschmeichler hinzu, als sei es ihm nachträglich eingefallen, »außerdem meine ich, dass Ihr
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