Twig im Dunkelwald
… überall war ich. Ich war immer bei Euch.«
Twig bekam auf einmal weiche Knie, er hatte Angst. Angestrengt überlegte er. Diese Stimme hatte er schon gehört, so viel stand fest. Und doch …
»Habt Ihr das wirklich vergessen, Master Twig?«, ertönte die Stimme wieder. Sie kicherte mit einem näselnden Zischen.
Twig fiel auf die Knie. Der Felsen fühlte sich kalt und klamm an, der Nebel wurde noch dichter. Twig sah kaum noch die eigene Hand vor dem Gesicht. »Was willst du von mir?«, flüsterte er.
»Von Euch? Was ich von Euch will?« Die Stimme lachte meckernd. »Es geht darum, was Ihr von mir wollt, Master Twig. Schließlich habt Ihr mich gerufen.«
»Ich habe dich g … g … gerufen?«, stotterte Twig. Seine Worte wurden von dem Nebel fast verschluckt. »Wie denn? Wann?«
»Na, na«, sagte der unsichtbare Sprecher vorwurfsvoll. »Jetzt spielt mir nicht den unschuldigen kleinen Waldtroll.« Und dann sagte er mit einer jammernden Stimme, die Twig als seine eigene erkannte: »›Ach Schleimschmeichler! Lass mich den Weg wieder finden, bitte.‹ Bestreitet Ihr nun immer noch, dass Ihr mich gerufen habt?«
Da begriff Twig, wen er vor sich hatte, und begann zu zittern. »Aber ich wusste doch nicht …«, sagte er verzweifelt. »Ich wollte doch nur …«
»Ihr habt mich gerufen und jetzt bin ich da«, sagte der Schleimschmeichler und seine Stimme hatte einen drohenden Unterton. »Ich bin Euch gefolgt, ich habe auf Euch aufgepasst und Euch mehr als einmal aus gefährlichen Situationen gerettet, in die Ihr Euch selbst gebracht habt.« Er schwieg. »Habt Ihr geglaubt, ich würde Euch nicht hören?«, fuhr er freundlicher fort. »Ich höre immer zu, allen einsamen Seelen und Außenseitern. Ich helfe ihnen, führe sie und dann …«
»Ja?«, fragte Twig ängstlich.
»… kommen sie zu mir«, sagte die Stimme. »Wie Ihr gekommen seid, Master Twig.«
Der Nebel wurde jetzt wieder dünner und waberte in der Luft wie Spinnweben. Twig sah, dass er am Rand einer Felsplatte kniete. Wenige Zentimeter vor ihm öffnete sich ein schwarzer Abgrund. Hinter ihm schweflige Wolken und vor ihm … Er schrie entsetzt auf. Vor ihm schwebte über dem Abgrund die grinsende Fratze des Schleimschmeichlers, übersät mit Schwielen und Warzen. Dicke Haarbüschel umstanden das lange, höhnisch verzerrte Gesicht. Er sah Twig tückisch an und leckte sich schmatzend die Lippen.
»Kommt zu mir«, sagte er schmeichelnd. »Ihr habt mich gerufen und hier bin ich. Warum tut Ihr nicht noch den letzten Schritt?« Er streckte die Hand aus. »Ihr gehört zu mir.«
Twig starrte ihn an, unfähig den Blick von der Fratze des Ungeheuers abzuwenden. Es hatte spitz auslaufende, gedrehte Hörner und fixierte ihn mit zwei gelben Augen. Der Nebel verflüchtigte sich. Um die Schultern des Schleimschmeichlers hing ein fettig glänzender, grauer Mantel, der nach unten im Nichts verschwand.
»Ein kleiner Schritt«, sagte er zärtlich und winkte lockend. »Nehmt meine Hand.« Twig starrte auf die knochigen, mit Klauen besetzten Finger. »Mehr braucht es nicht um zu mir zu kommen – nicht für jemand wie Euch, Master Twig«, säuselte die Stimme verführerisch. Die gelben Augen wurden größer. »Denn Ihr seid etwas Besonderes!«
»Etwas Besonderes«, flüsterte Twig.
»Etwas Besonderes«, wiederholte der Schleimschmeichler. »Ich wusste das gleich, als Ihr mich zum ersten Mal gerufen habt. Ihr verspürtet eine große Sehnsucht, eine innere Leere, die Ihr füllen wolltet. Ich kann Euch dabei helfen. Ich kann Euch vieles lehren. Denn das wollt Ihr doch mehr als alles andere, nicht wahr, Master Twig? Dinge wissen, sie verstehen. Deshalb habt Ihr doch den Weg verlassen.«
»Ja«, sagte Twig wie im Traum. »Genau deshalb.«
»Der Dunkelwald ist nicht der richtige Ort für Euch«, fuhr der Schleimschmeichler sanft drängend fort. »Ihr wollt Euch nicht wie die anderen aus Angst vor der großen, weiten Welt in einer Ecke verkriechen. Ihr seid wie ich, ein Abenteurer, ein Reisender, ein Suchender. Und ein Zuhörer!« Er senkte die Stimme vertraulich. »Ihr könntet auch ein Schleimschmeichler sein, Master Twig. Ich kann es Euch lehren. Nehmt meine Hand und Ihr werdet sehen.«
Twig machte einen kleinen Schritt nach vorn. Sein Knöchel schmerzte. Der Schleimschmeichler, der immer noch jenseits der Felsplatte in der Luft schwebte, zitterte. Sein missgestaltetes Gesicht verzerrte sich kummervoll, in seine gelben Augen traten Tränen.
»Nein«, seufzte er.
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