Über Alle Grenzen
ernst. Sie waren zwar eindeutig betrunken gewesen, was viele in Rumtek erschüttert hatte, aber das war keine Entschuldigung. Jetzt galt es wieder, die Linie sauber zu halten. Ich sprang die Treppe zum Büro des Generalsekretärs hoch und verlangte, das Papier zu sehen. Der verehrte Kleinkönig aus Tibet war solches Benehmen nicht gewohnt. Klugerweise hielt er das Papier außerhalb meiner Reichweite und schob es dann ganz schnell wieder in die Schublade. Der Klebestreifen zwischen den Unterschriften war deutlich zu sehen, es war eine echte Fälschung. “Wenn du das jemals rausschickst, kannst du Europa abschreiben!” sagte ich. “Wir folgen Rumtek und wollen nichts mit Boulder zu tun haben.” Er war klug genug, es nicht zu veröffentlichen, und fand wohl später selbst heraus, wie sehr er missbraucht worden war. Barbara Pettee, die Mutter des Buddhismus an der Westküste, war an diesem Tag wichtiger als je zuvor. Sie schützte wirklich unsere Linie.
Die fünf Rinpoches
Am 19. Dezember blieben die meisten die Nacht über bei den Pujas. Karmapas Körper war aus dem Mandala herausgeholt worden. Statt während der 45 Tage, die er in dem warmen Raum gesessen hatte, zu verwesen, war er ganz einfach geschrumpft. Er saß jetzt in einem etwa 50 Zentimeter hohen Kasten dem Altar gegenüber. Man konnte durch ein Fenster hineinschauen, doch keiner nutzte die Gelegenheit. Wohl wissend, dass ich diese Geschichte später würde erzählen müssen, schaute ich hinein, lange und genau. Ein dünner Schleier hing über seinem Gesicht, das sich kaum verkleinert hatte, während der Rest von seinem ehemals kräftigen Körper kindsgroß war. Nach den “Diamantgesängen der Kagyü-Meister” und einer Meditation auf den 8. Karmapa trug man den Holzkasten hinaus und stellte ihn in eine neu gebaute Stupa. Sie steht auf der Dachterrasse des Klosters zwischen dem baumreichen südlichen Schützerberg Rumteks und den schneebedeckten Bergspitzen jenseits des Sikkim-Tals, die die Grenze nach Tibet bilden.
Bei der Verbrennung
Tatsächlich hatte Karmapa seinen Körper für eine Aufbewahrung vorbereitet, wie üblich bei den höchsten Lamas Tibets. Unser erster Lehrer Lopön Tsechu nahm an, dass so spätere Schwierigkeiten in der Linie hätten vermieden werden können. Kalu Rinpoche hatte aber darauf bestanden, dass der Körper verbrannt wurde, und die jungen Linienhalter, ohne viel Erfahrung auf dem Gebiet, folgten seinem Rat. Dann wurde ein Flüchtling aus Tibet geholt, ein Mönch, der keine Verbindung zu diesem Karmapa gehabt hatte. Nur einer wie er durfte die Stapel aus trockenem Sandelholz anzünden, die unter der Stupa aufgeschichtet waren. Zehntausend Menschen aus der ganzen Welt hielten den Atem an, als die Flammen sofort mehrere Meter durch die Stupa hoch schlugen. Wir standen mit bester Aussicht über die Schneeberge. Uns gegenüber, hinter der Stupa, waren Lopön Tsechu, Kurt und andere Freunde.
Lopön Tsechu Rinpoche machte mir gegenüber im Juni 1993 in Basel eine wichtige Aussage zu den Geschehnissen und rief später in Schwarzenberg Tomek zu sich, um sie nochmals zu bestätigen. Diese Auskünfte des ersten Lehrers von Hannah und mir sind niemals früher veröffentlicht worden. Da sie so unterschiedlich sind zu den Behauptungen, die Tai Situpa und seine Schüler machten, werden hier Lopön Tsechus Worte genau wiederholt, und ich bitte, sie zu beachten: “Ich hielt mich auf der Nordseite der Stupa auf, in der die Verbrennung stattfand. Rechts von mir stand der Khampa-Lama Namkhai Dorje und links der Khampa-Lama Drunye Ngödrub. Kein anderer Rinpoche oder Linienhalter war in der Nähe. Plötzlich kam uns aus der Öffnung der Stupa eine brennende Kugel entgegen, es war Karmapas Herz. Sie landete vor mir und hörte sofort zu brennen auf. Die anderen wollten sie wieder in das Feuer geben, aber ich sagte, dass das Herz erhalten werden solle, wenn es schon herausgerollt sei und von selbst zu brennen aufgehört habe. Also hob ich es auf einen metallenen Teller, den ich auf die Stupa stellte. Später kamen die Linienhalter und viele Lamas aus der Puja heraus und gingen um die Stupa. Sie sahen das Herz, und Situpa sagte, dass er es haben müsse. Er nahm es mit in sein Zimmer. So geschah es und nicht anders.”
Der Regenbogen um die Sonne
Plötzlich, während der Verbrennung, entdeckten wir einen riesigen doppelten Regenbogen. Er stand um die Sonne am ansonsten sehr klaren und trockenen Winterhimmel, was auch dort sehr
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