Über das Haben
Vernunft in ihm nennen». In der Kategorie des seins statt des HABENS ausgedrückt, muss es sich folglich so verhalten, dass der Mensch, «wenn er kein instinktmäßiges Tier SEIN sollte, er vermöge der freier wirkenden positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf SEIN MUSSTE ».
Die Kompensatorik von konditionalen Schlussfolgerungen dieser Art hat ihre Wirkung auf Herders Lesepublikum nicht verfehlt und ist auf lange Zeit ein argumentatives Grundmuster der gerade im deutschen Sprachraum besonders geschätzten philosophischen Anthropologie geblieben. Sie hat jedoch andererseits auch erheblich dazu beigetragen, der Darwinschen Evolutionstheorie den Weg nach Deutschland zu erschweren und zu verlangsamen.
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Ein zweiter Grundpfeiler der philosophischen Anthropologie ist lange nach Herder am Anfang des 20. Jahrhunderts von dem Philosophen Max Scheler aufgerichtet worden. Es handelt sich abermals um eine kleine Abhandlung unter dem weit gespannten Titel «Die Stellung des Menschen im Kosmos» (1928). In diesem Text bildet der Husserl-Schüler Max Scheler, nun mit Unterstützung durch die Phänomenologie, den Herderschen Ansatz weiter, demzufolge der Mensch vor allem durch das Privileg der Wesensmerkmale, die nur er HAT , die «Sonderstellung» erkennen lässt, die ihn als einziges Geschöpf im Kosmos auszeichnet.[ 3 ]
In dieser viel gelesenen Programm- und Streitschrift (bei Scheler geht es immer auch gegen Kant) verschafft der Autor seiner anthropologischen Doktrin einen weiten Resonanzkörper, den er auch immer mitschwingen lässt, wenn er mit scharfen Kanten die Stufungen zwischen der anorganischen, der vegetativen, der animalischen und der menschlichen Schöpfung markiert. Mit Herder befindet er sich dabei auch insofern im Einklang, als er die vertikalen Sakkaden seines Panoramabildes vorzugsweise an HABEN -Sätzen festmacht, die jedoch fallweise für die niedrigeren Stufen als NICHT-HABEN verbucht werden.
So stellt Scheler zum Beispiel für die anorganischen Gebilde fest, dass sie KEIN Zentrum HABEN . Weiter aufsteigend in seiner Betrachtung, beobachtet er an den Pflanzen, dass ihnen jedes Bewusstsein FEHLT , so dass sie auch NICHT das Merkmal der «Lebenswachheit» BESITZEN . Auf der nächst höheren Stufe erkennt Scheler für das Tier zwar an, dass es «schon» eine Einheitsstruktur seines Nervensystems HAT und sich damit der ihm von der Natur zugemessenen «Umwelt» (wie Scheler jetzt mit Uexküll sagt statt Sphäre oder Kreis) artgerecht einpassen kann. In diesem eng umgrenzten Rahmen können die höheren Tiere sogar (er denkt hier an Köhlers berühmte Beobachtungen zum Werkzeuggebrauch der Schimpansen), außer ihren Instinkten und Gewohnheiten, auch «schon» eine gewisse funktionale Intelligenz BESITZEN . Aber im Tableau der Naturgeschichte bleibt es doch eine vorwiegend negative Bilanz, die das ganze Weltgebilde unterhalb der menschlichen Seinsebene kennzeichnet.
Nun kann man sich fast schon ausdenken, wie es auf der steilen Treppe der Schöpfung weiter oben aussieht. Auf der obersten Stufe istendlich die HABEN -Seite der Bilanz erreicht. Alles nämlich, was die niederen Hervorbringungen der Schöpfung NICHT HABEN , das HAT der Mensch, und zwar in Glanz und Gloria. Er ist das einzige Wesen, das nicht «Umwelt», sondern «Welt» HAT . Mit seiner «Weltoffenheit» steht er folglich «hoch über» der sonstigen Schöpfung. Denn er ist das einzige Wesen, «das Geist HAT ». In diesem Wesensmerkmal sind alle sonstigen Aspekte der Menschennatur fundiert. Weit hinter sich gelassen hat damit der Mensch als Geistträger alle anderen Geschöpfe, an deren Wesen ihn eigentlich nur zu interessieren braucht, was sie NICHT HABEN , nicht das, was sie HABEN .
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Zeitgleich mit Max Schelers knapp gefasster Schrift, im Jahre 1928 also, ist noch ein weiteres Hauptwerk der philosophischen Anthropologie erschienen: Helmuth Plessners umfangreiche Abhandlung «Die Stufen des Organischen und der Mensch».[ 4 ] In strenger Systematik fragt der Autor in diesem Werk nach den Wesensmerkmalen der organischen Formen: Pflanze, Tier, Mensch. In diesem Zusammenhang beschreibt er auch ausführlich die Lebensfunktionen des Körpers, denen er im lebendigen Ganzen der organischen Welt die wichtige Brückenfunktion zwischen Subjekt und Objekt des HABENS zuschreibt: «Lebendige Dinge […] HABEN wirkliche Eigenschaften, weil ihr SEIN so geartet ist, dass es etwas HABEN kann.» Doch gilt das anthropologische Interesse des Autors im
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