Über das Haben
Grunde weniger den Modalitäten des körperlichen HABENS , das er gelegentlich vereinfachend mit dem Besitzen gleichsetzt, und auch nicht eigentlich dem Objekt als seiner «Wirkeinheit», sondern in erster Linie dem Subjekt des HABENS , das er mit Vorliebe das Selbst nennt und als Kern oder Mitte des lebendigen Systems verstehen will. Durch diesen Subjektivismus lässt sich der Autor leicht vom HABEN ablenken. Zwar kann Helmuth Plessner noch formal gleichrangig eine «Welt des HABENS » einer «Welt des Seins» gegenüberstellen, doch ist gleichwohl in seiner Theorie des «gehabten Seins» nur schwer eine neue Ontologie erkennbar, die mit Heideggers «Sein und Zeit» (1927) hätte konkurrieren können.
So erfuhr der Gedankenflug der philosophischen Anthropologie in den Jahren 1927/28 einerseits noch einmal einen kräftigen Auftrieb (Scheler), andererseits aber wurde diese Lehre am Boden gehalten von einem wenig flugtauglichen Systemdenken (Plessner), so dass die Heidegger-Anhänger ein relativ leichtes Spiel hatten, die philosophische Anthropologie
en bloc
für überholt zu erklären. Was jedoch Scheler betrifft, der noch in eben diesem Jahr 1928 verstarb, so hat Heidegger von ihm in einem Nachruf lobend geschrieben, er sei «die stärkste philosophische Kraft in der gegenwärtigen Philosophie» gewesen. Immerhin sind manche Grundgedanken der philosophischen Anthropologie auch bei Heidegger und schon während der Arbeit an «Sein und Zeit» aufmerksam vermerkt worden und haben ihm bei seiner Erneuerung der Ontologie manches menschenkundliche Stichwort zugetragen.
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SCHOPENHAUER: WAS EINER IST, WAS EINER HAT, WAS EINER VORSTELLT
Der Philosophenweg, der von Herder über die lange Zeitstrecke von mehr als anderthalb Jahrhunderten zu Max Scheler führt, weist fast genau in der Mitte eine Abzweigung auf, die uns zu Arthur Schopenhauer geleitet. Dieser große Sonderling unter den Philosophen der nachkantischen Philosophie war um die Mitte des 19. Jahrhunderts als Verfasser seines umfangreichen Jugend- und Hauptwerks «Die Welt als Wille und Vorstellung» (1818) bereits seit langem bekannt und schon halb vergessen, als er im Jahre 1851, fast aus dem Nichts, ein vergleichsweise kleines und scheinbar unbeachtliches Werk auf den Markt brachte, das aus seinem Verfasser zu seiner eigenen Überraschung auf der Stelle einen erfolgreichen Autor machte. Am Titel kann es nicht gelegen haben; abschreckender als mit dem halbgriechischen Wortpaar «Parerga und Paralipomena», das man annähernd als «Beiwerk und Abgelegtes» wiedergeben kann, lässt sich ein Buch kaum einführen. Doch sein Lesepublikum hat dem Buch oder genauer gesagt einem Teilstück von ihm, unter dem nun doch zum Lesen einladenden Titel «Aphorismen zur Lebensweisheit» einen überraschenden Erfolg beschert, der schließlich auch das Hauptwerk des Autors in die Berühmtheit nachgezogen hat.[ 1 ]
Schopenhauers «Aphorismen zur Lebensweisheit» können in gewisser Weise der Anthropologie zugerechnet werden. Doch ist es nicht die spekulative Anthropologie im Stile von Herder. Diese kommt bei Schopenhauer zwar auch zu Worte, jedoch nur versteckt in einer ausführlichen Fußnote, wie sie eigentlich nicht zur Literaturgattung der Aphorismen passt. So ist nur eine Art Sackgasse daraus geworden. Doch gibt es in der europäischen Literaturgeschichte noch eine andere anthropologische Gattung, die für Schopenhauer eher maßgeblich geworden ist. Sie verdankt ihre Bekanntheit zu gleichen Teilen ihremErfinder, dem Aristoteles-Schüler Theophrast, und ihrem Neuerfinder, dem französischen Schriftsteller La Bruyère im 17. Jahrhundert. Gemeint sind die von beiden Autoren so genannten «Charaktere», die zu verstehen sind als eine lebens- und weltkundige Vorstellung verschiedener Menschentypen, wie zum Beispiel des Melancholikers oder des Ironikers. Diese werden von den genannten Musterautoren jeweils katalogförmig aufgelistet und in einem witzig-aphoristischen Stil beschrieben.
Nach diesem Muster können auch Schopenhauers «Aphorismen zur Lebensweisheit» als witzig und scharfzüngig vorgestellte Sammlung von menschlich-allzumenschlichen Charakteren angesehen werden. Bei ihm sind sie allerdings – das ist ein Tribut, den Schopenhauer seiner anfänglichen Neigung zur systematischen Philosophie zollt – in drei parallel konzipierten Gruppen angeordnet. Sie sind daher auch am besten durch die parallel formulierten Untertitel seiner drei Rubriken vorzustellen:
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